Die Lage in Bergkarabach nach dem Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan

Land im Abbruch

Nach dem Krieg in Bergkarabach und enormen Gebietsgewinnen für Aserbaidschan werden viele Armenier wohl niemals wieder in ihre alten Wohnorte zurückkehren können.
Reportage Von

Auf dem Weg durch den Südkaukasus nach Bergkarabach lässt sich der Ausblick auf schneebedeckte Hänge und majestätische Schluchten nur schwer genießen. Denn auf der Straße sind Brandmale zu sehen: Im sechswöchigen Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan landeten mehrere Sprengkörper auf dem zweispurigen nördlichen Zugangspass nach Bergkarabach. Behutsam fahren die Autos an Einschlaglöchern und zersplittertem Asphalt vorbei.

In die eine Richtung sind fliehende, in die andere zurückkehrende Armenier unterwegs. Fahrzeuge der armenischen Armee schieben sich ebenso voran wie russische Truppentransporter. Russische Soldaten sollen das Waffenstillstandsabkommen überwachen, das Armenien, Aserbaidschan und Russland am 9. November unterzeichnet haben (Unter russischer Aufsicht), und jahrhundertealte Klöster, Kirchen und Kulturdenkmäler schützen. In Armenien herrscht die Angst, die aserbaidschanische Regierung könnte diese Bauten nach der Übernahme der Gebiete zerstören – wie bereits in der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan und anderen Teilen Aserbaidschans, in denen viele armenische Kirchen dem Erdboden gleichgemacht wurden.

Das Dorf Tscharektar liegt auf dem Weg nach Bergkarabach, in Kelbadschar, einem der benachbarten Gebiete, die Armenien Ende November an Aserbaidschan übergeben musste. Kurz vor der Übergabe scheint Tscharektar wie ausgestorben. Leitungsrohre, landwirtschaftliche Maschinen, Generatoren und andere Wertgegenstände sind verladen und die Armenier, die hier gelebt haben, mit ihrem Hab und Gut verschwunden.

»Die Aserbaidschaner lehren ihre Kinder bis heute, dass wir Armenier schlechte Menschen seien.« Raya Alexandrowna Bagiryan, Armenierin aus Bergkarabach

Viele Armenier haben vor ihrem Exodus ihre eigenen Häuser angezündet. Einer ist geblieben: Aschot Sewjan, Jahrgang 1970, sitzt mit seiner Kalaschnikow und einer kleinen Handfeuerwaffe auf einem Sofa draußen auf der Terrasse seines Hauses. »Viele Dorfbewohner haben ihre Häuser hier angezündet und sind weggegangen. Ich selbst habe mein Haus nicht niedergebrannt, weil ich hier geboren bin. Für mich ist das hier der Sinn meines Lebens. Ich behalte lieber meine Waffe in der Hand. Und ich würde jeden umbringen, der hierherkommt, um mir mein Haus zu nehmen«, sagt er. »Wer sein Hab und Gut verteidigt, der kann in Würde sterben. Es ist ganz gleich: Früher oder später werden wir alle sterben. Die Frage ist nur: Wie will man sterben? Als Verräter oder als echter Mann?«

Aschot Sewjan sagt, er habe zur Zeit der Sowjetunion in der DDR in Halle und in Zeitz seinen Armeedienst geleistet. Für seine Gäste hat er Kaffee auf­gebrüht. Trümmer und Schrott stapeln sich zwischen ihm und dem kleinen Swimmingpool, in dem früher seine Kinder gebadet haben. Sie seien zusammen mit seiner Ehefrau bei Kriegsausbruch nach Armenien geflüchtet. Sewjan ist Invalide, er läuft mit Prothesen, die er nach seinem Einsatz im ersten Krieg um Bergkarabach Anfang der neunziger Jahre bekommen hat. »Ich wusste damals schon: Es geht um mein Haus, mein Eigentum.« Ihm ist wichtig zu betonen, dass sein Dorf Tscharektar schon immer von Armeniern bewohnt war, auch zu Sowjetzeiten, als es noch zur aserbaidschanischen Sowjetrepublik gehörte. »Sehen Sie die Kirche da oben?«, fragt er und deutet auf die kleine Kapelle, die einen Steinwurf von seinem Grundstück entfernt auf einem Hügel thront. »Die gab es hier schon immer.«

Zurück nach Stepanakert
Bergkarabach wird in Armenien als »Republik Arzach« bezeichnet. Doch kein Staat der Welt hat diese Republik je anerkannt. Die Region hatte nach dem ersten Krieg um ihre Zugehörigkeit ihre Unabhängigkeit erklärt. De facto aber war Arzach seitdem militärisch und politisch eng mit der Republik Armenien verbunden. 150 000 Menschen lebten hier in Friedenszeiten. Nach dem erneuten Angriff durch Aserbaidschan am 27. September ist mehr als die Hälfte von ihnen geflüchtet. Mit seinem Sieg ist Aserbaidschan ein Drittel des ursprünglichen Territoriums zugefallen, und darüber hinaus noch die sieben umliegenden vormals besetzten Gebiete, darunter auch Kelbadschar. Auch die zweitgrößte Stadt der Region, Schuschi oder Schuscha, wie sie auf Aserbaidschanisch genannt wird, ist für die Armenier verloren. Dort tobten die Kämpfe bis zum letzten Tag des Kriegs.

Dennoch kehren viele Menschen nun aus Flüchtlingsunterkünften in Armenien nach Bergkarabach zurück und kommen in Stepanakert an, der Hauptstadt der Region. Auch Raya Alexandrowna Bagiryan, die dort mit gepackten Koffern und Reisetaschen aus einem Bus steigt. »Uns ist nur noch wenig geblieben von unserem Land. Man hat fast alles dem Feind überlassen«, sagt sie.

Bagiryan wurde 1935 geboren. Über die längste Zeit ihres Lebens, während des Bestehens der Sowjetunion, bewohnten Aserbaidschaner und Armenier das Gebiet zusammen. Eine gemeinsame Zukunft mit Aserbaidschanern, die nach Bergkarabach ziehen, ist für sie aber unvorstellbar: ­»Unmöglich, absolut unmöglich!« Als es die Sowjetunion noch gab, seien die Armenier mit den Aserbaidschanern befreundet gewesen. »Aber als die Sowjetunion zerbrach, begannen die Aserbaidschaner, unsere Söhne und Enkel zu töten. Sie lehren ihre Kinder bis heute, dass wir Armenier schlechte Menschen seien. Es gibt eine regelrechte Agitation gegen uns.« Mit ihren Verwandten will sie in ihr Haus zurückkehren, aufräumen und trauern. ­Bereits im ersten Krieg seien Familienmitglieder gestorben, auch nach den jüngsten Kämpfen habe sie Opfer zu beklagen.

Mit wem man auch in Stepanakert spricht: An eine Versöhnung mit Aserbaidschan denkt hier niemand. Viele Wohngebäude, Geschäfte, der Stadt­basar und eine Geburtsklinik wurden während der sechswöchigen Bombar­dements zerstört.

Auf einem der Friedhöfe in Stepanakert, direkt neben dem Krankenhaus, beerdigen sie nun die Toten: Dutzende Zivilisten sind ums Leben gekommen, nach offiziellen armenischen Angaben wurden mindestens 2 700 armenische Soldaten getötet. Aber nach Einschätzung der meisten Menschen hier liegt die Zahl der Gefallenen mindestens doppelt so hoch. Dafür spricht auch das Bild, das sich auf dem Friedhof bietet: Jeden Tag heben Bestatter neue Gräber aus. Die Leichen der Soldaten werden nur allmählich aus den Kampfgebieten geborgen oder von Aserbaidschan zurückgegeben. Männer in Uniform schenken schweigend Wein aus Plastikflaschen aus, sie trinken ein letztes Mal auf ihre getöteten Freunde und Kameraden. Auf den Grabsteinen ­stehen die Geburtsjahre der Gestorbenen: 1998, 2001, 1987, 2000.

Die Schätzungen der Totenzahlen auf armenischer Seite bewegen sich nach inoffiziellen Quellen zwischen 5 400 und 10 000 – in Armenien und Bergkarabach mit seinen insgesamt nicht mal drei Millionen Einwohnern wäre das viel: Fast jede Armenierin und jeder Armenier hat wohl Bekannte oder Verwandte unter den Gefallenen oder schwer Verwundeten.

Basar von Stepanakert

Auch der Basar von Stepanakert hat unter dem Bombardement durch die aserbaidschanische Armee gelitten

Bild:
Marcus Latton

Angst vor Erdoğan
Auch Hovig Esmerjan aus Stepanakert war bereit zu kämpfen. Wenige Tage nach seiner Einberufung sei das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet worden. Die aserbaidschanischen Luftangriffe habe er wochenlang miterlebt. »Jeder musste sich verstecken, vor allem bei den Angriffen der Drohnen. Du hörst das Geräusch schon von weitem, es hängt die ganze Zeit über deinem Kopf. Als sie die Stadt bombardierten, flüchteten wir in die Luftschutzbunker. Sie haben alles attackiert, sogar den Basar.«

Hovig Esmerjan betreibt in Stepanakert ein Restaurant mit Spezialitäten aus Syrien. Es sei bereits der zweite Krieg für ihn, denn er sei 2012 aus seiner Heimatstadt Aleppo geflohen. Nach dem Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich Anfang des 20. Jahrhunderts siedelten sich viele Armenier in Syrien an, noch immer leben sie dort als Minderheit. Die Erinnerung an den Völkermord erwacht bei Hovig Esmerjan angesichts der türkischen Unterstützung von Aserbaidschans militärischer Offensive. »Unser Kampf rich­tete sich vor allem gegen die Türkei, nicht gegen Aserbaidschan. Denn die Aserbaidschaner benutzten türkische Waffen, und die Türken erhielten Geld von Aserbaidschan. Die Türkei kontrolliert die aserbaidschanische Armee. Sie hat syrische Söldner ein­gesetzt«, sagt er.

Esmerjan lässt sich Zeit beim Sprechen. Wie einer, der es gewohnt ist, dass man ihm zuhört, wenn er redet. »Es ist fast schon zum Witz geworden: Erdo­ğan verfolgt mich überallhin. Erst war ich in Syrien, wo er mir Probleme gemacht hat. Dann ging ich nach Arzach, und er verfolgte mich auch hier. Weswegen ich nicht auch von hier irgendwohin wegziehen werde, weil er mich auch dort aufspüren wird.«

»Jeder musste sich verstecken, vor allem bei den Angriffen der Drohnen.« Hovig Esmerjan, Restaurantbetreiber aus Stepanakert

Wie viele Armenier ist Hovig Esmerjan enttäuscht von dem Desinteresse, das die Welt in den Wochen des Kriegs für die Angriffe auf Bergkarabach gezeigt hat. Die Zukunft von Arzach sieht er in Gefahr. »Ich denke nicht, dass die Menschen hier noch weiter leben können. Sie werden nur zeitweilig zurückkehren, sie werden ihr Eigentum verkaufen und Arzach wird sich leeren.« Genau wie Nachitschewan, heute unter dem Namen Baku Hauptstadt Aserbaidschans, und viele andere Orte, an denen Armenier einst in der Mehrheit waren und dann zur Minderheit wurden, fügt Esmerjan hinzu.

Während die Aufbauarbeiten in Stepanakert und andernorts in Bergkarabach weitergehen, ist weiter westlich heftiger Streit entbrannt. In der armenischen Hauptstadt Eriwan stürmten aufgebrachte Demonstranten am Tag nach der Unterzeichnung des Waffenstillstandsabkommens das Parlament. Von der zuvor großen Popularität des armenischen Ministerpräsidenten ­Nikol Paschinjan ist nicht viel übrig geblieben. Paschinjan gelangte 2018 nach Massenprotesten gegen die alte Herrscherclique um Sersch Sargsjan an die Macht und setzte im Zuge der sogenannten Samtenen Revolution Neuwahlen durch. Nun muss er sehen, wie in der Hauptstadt regelmäßig gegen ihn demonstriert wird. Viele in Armenien fordern seinen Rücktritt. Sie werfen ihm unter anderem vor, mit dem Abkommen habe er zu viele Zugeständnisse an Aserbaidschan gemacht, zugleich hätten seine strategischen Fehler Soldaten das Leben gekostet.

Die Last des Nationalismus
Richard Giragosian ist politischer Analyst und Leiter des Think Tanks Regional Studies Center in Eriwan. Armenien müsse nach der Kriegsniederlage ­genau prüfen, welche diplomatischen Optionen jetzt am sinnvollsten seien, sagt er. Der wichtigste Punkt sei die Zukunft und die Sicherheit der Armenier, die noch in Bergkarabach leben und von weniger als 2 000 leichtbewaffneten russischen Soldaten abhängig sind. »Es sind die russischen Friedenstruppen, die allein zwischen einer bedrohten armenischen Bevölkerung und ­einem großen, aggressiven aserbaidschanischen Militärapparat stehen.«

Die Niederlage beruhe auf der schlechteren Ausrüstung der armenischen Armee: Das Verteidigungsbudget Aserbaidschans ist nach offiziellen Angaben rund zwei Drittel so groß wie der gesamte Staatshaushalt Armeniens; die Regierung in Baku gewann zudem mit modernen Drohnen aus der Türkei und Israel die Lufthoheit über das umkämpfte Gebiet. Giragosian meint, Armenien habe sich vor der Offensive Aserbaidschans zu sehr darauf verlassen, dass sich nichts Grundlegendes ändern werde. »Ein großes Problem war eine gefährliche und kaum entschuldbare Selbstzufriedenheit. Fälschlicherweise hat man angenommen, dass die Zeit für die Armenier spiele. Die Notwendigkeit, Kompromisse und ­Zugeständnisse zu machen, was die besetzten Gebiete außerhalb von Bergkarabach betrifft, das geriet in Vergessenheit und wurde immer unpopulärer. Und das war gefährlich. Das interessanteste Opfer dieses Kriegs ist Armeniens Mythos von der eigenen militärischen und diplomatischen Unbesiegbarkeit.«

Für Sevak Kirakosjan müsste sich noch einiges andere ändern. Der Sprachlehrer ist in mehreren Friedensinitiativen in Eriwan aktiv, unter etwa im South Caucasus Council. Er setzt sich für einen Dialog zwischen Aserbaidschanern und Armeniern ein. Bei seinen Landsleuten stößt das auf heftigen Widerstand. Viele meinen, man könne doch mit dem Feind keine Annäherung suchen, zumal nicht mit Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew, dem Diktator. Sevak Kirakosjan hingegen sagt: »Wir müssen das als Fakt hinnehmen, Aserbaidschan ist, was es ist. Wenn wir es schaffen, in Putins Russland einen Freund zu sehen, und sogar im Iran, der sich so schrecklich verhält, was Menschen- und Frauenrechte betrifft, warum können wir uns dann nicht auch mit dem modernen Aserbaidschan und mit der modernen Türkei gut stellen?«

Für Kirakosjan geht es jetzt darum, den alten Nationalismus hinter sich zu lassen – trotz des großen Schmerzes über die Niederlage und trotz der Gebietsverluste. »Wenn wir weiter so denken, wie wir bisher gedacht haben, und so handeln, wie wir bisher gehandelt haben, werden wir dieselben Dinge immer und immer wieder erleben: Krieg, Konflikt, das Gefühl, verraten worden zu sein vom Rest der Welt und nicht verstanden zu werden.«

Ob diese Botschaft in Armenien in nächster Zeit auf offene Ohren stoßen wird, ist fraglich. Selbst Wochen nach der Kapitulation tauchen auf Telegram-Kanälen und in sozialen Medien immer wieder Fotos und Videos von aserbaidschanischen Soldaten auf, die ­armenische Kriegsgefangene foltern, demütigen, töten, in einigen Fällen ­sogar enthaupten. Aschot Sewjan aus dem Dorf Tscharektar sagt: »Aserbaidschaner existieren für mich nicht.«