Der Prozess gegen den Attentäter von Halle steht vor dem Abschluss

Zeit der letzten Worte

Nach 25 Verhandlungstagen steht der Prozess gegen den Attentäter von Halle kurz vor dem Abschluss. Die Nebenklage blickte in ihren Plädoyers und Schlussworten auf den Anschlag und dessen Verhand­lung zurück.

Eine lebenslange Freiheitsstrafe, die Feststellung der besonderen Schwere der Schuld und eine Sicherungsverwahrung für den Angeklagten – das beantragte der Bundesanwalt für den ­Attentäter, der mit selbstgebauten Waffen am 9. Oktober 2019 einen Anschlag auf die Synagoge in Halle (Sachsen-Anhalt) verübt hatte.

Den Ermittlungen und einem Teilgeständnis des Angeklagten zufolge ergibt sich folgender Tathergang: Nachdem es ihm nicht gelungen war, die Eingangstür der Gemeinde aufzusprengen, deren 52 Gäste drinnen den höchsten jüdischen Feiertag Yom Kippur feierten, tötete er auf dem Gehweg die zufällig vorbeikommende 40jährige Jana L. und im nahegelegenen Imbisslokal »Kiez-Döner« den 20jährigen Kevin S. Nach einem Schusswechsel mit der Polizei flüchtete der 28jährige mit seinem Auto und fuhr mit Beschleunigung auf der Gegenfahrbahn den Passanten Aftax Ibrahim an. Bei seiner weiteren Flucht verletzte er einen weiteren Mann und dessen Lebensgefährtin, Ersteren schwer. Weitere Angegriffene wie der Betreiber des Imbisslokals, İsmet Tekin, auf die er schoss, konnten sich rechtzeitig in Sicherheit bringen.

Mehrere Nebenkläger kritisieren, dass die Bundes­anwaltschaft die Taten gegen Aftax Ibrahim und İsmet Tekin, Betreiber des »Kiez-Döners«, noch nicht als rassistische Mordversuche anerkannt habe.

Im Verfahren gegen den Angeklagten, das seit Juli im Magdeburger Land­gericht läuft, wird am 21. Dezember das Urteil erwartet. Nachdem am 21. Verhandlungstag Mitte November die Richterin Ursula Mertens die Beweisaufnahme geschlossen hatte, gingen die durch insgesamt 23 Anwälte vertretenen Nebenkläger in ihren Plädoyers und Schlussworten auf den Anschlag und seine Folgen für die Betroffenen ein.

Die Nebenklägerin Jessica W. kritisierte, dass die Hintergründe und der Kontext der Tat nicht ausreichend thematisiert worden seien. In einer Stellungnahme, die ihr Anwalt Alexander Hoffmann verlas, hieß es, dass der ­Prozess die Chance geboten hätte, »den rechtsextremen Terror endlich einmal nicht kleinzureden, sondern zuzugeben, dass seine Wurzeln weit über diesen einen Mann, diesen einen Gerichtssaal, dieses Land hinausreichen«. Diese Chance sei nicht ergriffen worden. Stattdessen habe der Prozess gezeigt, welch inkompetente und unerfahrene Polizisten mit der Arbeit betraut worden seien und dass das Bundeskriminalamt auch strukturell nicht in der Lage sei, derartige Taten aufzuklären oder zu verhindern.

Die Nebenklägerin Christina Feist und ihre Anwältin Kati Lang betonten, dass es nicht etwa die Ermittler der Polizei, sondern Sachverständige wie die Journalistin Karolin Schwarz, der Leiter der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Berlin, Benjamin Steinitz, und der Rechtsextremismusforscher Matthias Quent sowie recherchierende Betroffene gewesen seien, die die Hintergründe und Folgen der Tat analysiert hätten.

Die Rechtsanwältin Kristin Pietrzyk sah es als erwiesen an, dass der Angeklagte keineswegs ein isolierter Einzeltäter gewesen sei, sondern sich über seine Ideologie online ausgetauscht und diese mit terroristischen Vorbildern und deren Unterstützern geteilt habe.

Um auszumachen, wie man persönlich und gesellschaftlich der Verbreitung von Antisemitismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit entgegen­wirken könne, müssten diese auch vor Gericht analysiert werden, forderte der Nebenklageanwalt Alexander Hoffmann. Die Ideologie und die Motive des Angeklagten seien schließlich mitbestimmend für das Strafmaß. Die weitverbreitete rechtsextreme Hetze habe der Angeklagte als Legitimation und Auftrag verstanden, selbst zur Tat zu schreiten.

Besonders deutlich kri­tisierten mehrere Nebenkläger, dass die Bundesanwaltschaft die Taten gegen Aftax Ibrahim und İsmet Tekin, den Betreiber des angegriffenen »Kiez-Döners«, noch immer nicht als rassistische Mordversuche an­erkannt habe. Als der Angeklagte sich vom Imbiss mit dem Auto entfernen wollte, versperrten ihm fünf Polizisten mit zwei Polizeiautos den Weg. Während dieses Schusswechsels schoss er in Tekins Richtung. Tekin selbst kritisierte am 22. Prozesstag den Bundesanwalt deutlich. Wenn »der Feigling«, wie Tekin den Angeklagten nannte, ihn nicht habe töten wollen, wisse er nicht, warum er unter schweren Alpträumen und Schmerzen leide.

Ibrahim war vom Angeklagten in Halle mit dem Auto angefahren worden; dem Mitteldeutschen Rundfunk schilderte er den Angriff. Der Bundesanwalt verneinte sowohl in seiner Anklage als auch in seinem Schlussvortrag eine Tötungsabsicht und ordnete den Angriff als Verkehrsdelikt ein. Letzteres bezeichnete Ibrahims Anwältin Ilil Friedman als »völlig abwegig« und nannte Gründe für einen bedingten Vorsatz des Angeklagten. Dieser habe vor Gericht ausgesagt, dass er die Kollision vermieden hätte, wenn es sich bei Ibrahim nicht um einen Schwarzen gehandelt hätte.

Die verschiedenen Parteien der Nebenklage kritisierten sich aber auch gegenseitig. Bereits während der Beweisaufnahme warfen einige Anwälte anderen Nebenklägern und ihren Vertretern vor, das Verfahren politisch zu instrumentalisieren und die Shoah zu bagatellisieren. Zuvor hatten mehrere Nebenkläger berichtet, dass durch den Anschlag Traumata wachgerufen worden seien, von denen ihnen ihre Groß­eltern berichtet hatten. Eine Zeugin berichtete etwa, sie habe während des Anschlags gedacht, ihr widerfahre nun, was sie sonst nur von den Schwarzweißbildern her kannte. Der Magdeburger Volksstimme sagte der Rechtsanwalt Juri Goldstein, der zwei Mandanten vertritt, die sich während des Anschlags in der Synagoge befanden: »Es gab eine Gruppe, die Tendenzen hatte, dieses Verfahren auf einen Podest zu stellen, der für mich einfach nicht vertretbar ist. Und diese Aussage sollte lediglich heißen, dass dieses Verfahren in keinster Weise mit Shoah gleichzustellen ist.« Die Gleichstellung des Attentäters mit seinen Idolen befördere Goldstein zufolge »Antisemitismus erst, anstatt ihn abzuschrecken«.

Mehrere Nebenkläger lobten die Arbeit der Vorsitzenden Richterin Ursula Mertens und des zuständigen Senats des Oberlandesgerichtes Naumburg, der den Prozess aus Platz- und Sicherheitsgründen nach Magdeburg verlegt hat. Der Prozess könne neue Standards setzen, wenn man darauf schaue, wie das Gericht den Betroffenen des Anschlags Gehör geschenkt habe, sagte der Rechtsanwalt Sebastian Scharmer. Im Prozessverlauf hatte Mertens zahlreiche Betroffene des Anschlags angehört und so gezeigt, welche schwerwiegenden psychischen Konsequenzen der Anschlag hatte. Scharmer appellierte an den Senat, auch mit der Urteilsbegründung neue Maßstäbe zu setzen. Die Hintergründe und die Folgen der Tat sollten klar benannt, den Betroffenen sollte jeweils ein Gesicht gegeben werden. Anders als beim Urteil im Münchner NSU-Prozess 2018 sollten sie nicht wie »austauschbare Objekte aus Sicht der Täter« beschrieben werden.

Während der Angeklagte in seinem Schlusswort den Holocaust leugnete und die Richterin nach Protest der Nebenklage die Sitzung unterbrach, schilderten die Nebenkläger die Solidarität, die zwischen ihnen im Laufe des Prozesses entstanden sei. Zwar habe die Vorsitzende Richterin Mertens in der Verhandlung das letzte Wort, sagte die Nebenklägerin Christina Feist in ihrem Schlusswort. Aber: »Das letzte Wort da draußen haben wir alle.«