Der Zeichner Tarık Tolunay wendet sich gegen die Umgestaltung Istanbuls

Ein osmanisches Disneyland

In Istanbul wird darum gekämpft, was die Türkei zukünftig kulturell prägen soll. Der Zeichner Tarık Tolunay wendet sich gegen die Umgestaltung der Stadt gemäß den kommerziellen und ideologischen Interessen der AKP.

Bahçeşehir, Gartenstadt, schien vor zehn Jahren noch eines von mehreren vielversprechenden Siedlungsprojekten Istanbuls zu sein. Heutzutage ist das auf der europäischen Seite der Stadt gelegene Viertel mit Hochhäusern vollgestellt. Istanbuler wie den Cartoonisten Tarık Tolunay hat der versprochene Wohnkomfort angelockt, zudem wollten sie den stetig steigenden Mieten in der Innenstadt entgehen. Es gab in Bahçeşehir Kabelfernsehen, Schwimmbäder, Einbauküchen und moderne ­Badezimmer. »Heute suche ich wieder etwas Zentraleres«, sagt Tolunay grinsend. Sein Sohn ist mittlerweile in der Abschlussklasse des Gymnasiums. ­Wegen der Pandemie ist auch er die meiste Zeit zu Hause und verfolgt den Online-Unterricht. »Ich möchte, dass er wieder mehr von der Atmosphäre von Istanbul mitbekommt.«

Der Zeichner sitzt am Schreibtisch vor einem großen PC und ruft eine Graphik auf: der Galata-Turm im Innenstadtviertel Beyoğlu, von Baggern eingekreist. Mitten im August erschraken viele Istanbuler über ein Video, auf dem zu sehen war, wie ein Presslufthammer die historischen Wände des Galata-Turms malträtiert, der Teil des Weltkulturerbes der Stadt ist. »Eigentlich sollten an einem solchen Gebäude nur Archäologen Hand anlegen, aber bei uns kommen gleich Bagger und Presslufthammer.«

Es stellte sich heraus, dass keine einschneidenden Baumaßnahmen an dem stadtprägenden Bauwerk vorgenommen werden sollten. Das Misstrauen gegen die Baubehörden ist jedoch nicht unbegründet. Viele Intellektuelle der Stadt regen sich darüber auf, dass mit der historischen Bausubstanz umgegangen wird, als ginge es darum, ganz Istanbul einzubetonieren.

Bis 2023, wenn der 100. Jahrestag der Republikgründung gefeiert wird, soll Istanbul ein neues Gesicht erhalten – fromm und monumental soll die Stadt zu Ehren der Autokratie erstrahlen.

Tarık Tolunay wurde 1970 in Istanbul geboren. Er ist Cartoonist, Künstler, Illustrator und politisch unerschrocken. Derzeit widmet er sich vor allem seinem monumentalen Graphikprojekt auf der Website Fractalistanbul. Es kombiniert Zeichnungen und prägnante Kurznachrichten, was Tolunay zu ­einem der wichtigen Intellektuellen Istanbuls macht, die gegen den Umbau der Stadt aufbegehren. Zehn Jahre lang hat Tolunay an dieser virtuellen Darstellung des Wandels in der Metropole gearbeitet, der seit seiner Kindheit stattgefunden hat. Das Multimedia-Projekt Fractalistanbul konzentriert sich auf die historischen Viertel.

Die Galata-Brücke erstreckt sich über das Goldene Horn, einen Seitenarm des Bosporus. In ihrer Umgebung befand sich vor der Eroberung durch die Osmanen 1453 die Innenstadt Konstan­tinopels, der Hauptstadt des Byzantinischen Reichs.

Unmittelbar an der Ga­lata-Brücke steht das Nordstern-Gebäude. Der Stararchitekt Giulio Mongeri ließ 1889 den Grundstein für das damals moderne Geschäftshaus legen. An der Wand des Bauwerks hängt nun eine Werbung für Mobiltelefone. Es wurde im Sommer in ein Hotel umgebaut. »In einer Stadt, in der alles verhökert wird, gibt es gravierende Probleme«, twitterte Tolunay dazu.

In der Nähe liegt im Stadtteil Hasköy am Goldenen Horn »Miniatürk«, ein Ausstellungspark, der Miniaturen von Gebäuden aus verschiedenen Epochen des Territoriums der heutigen Türkei zeigt. Im Hauptgebäude weihte Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu im Oktober eine Ausstellung zu Fractalistanbul ein. Der Politiker ist Mitglied der größten Oppositionspartei, der Republikanischen Volkspartei (CHP). Im Juni 2019 löste er nach 26 Jahren die Islamisch-Konservativen von der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) an der Spitze der Stadtverwaltung Istanbuls ab – ein schwerer Schlag für die Partei des Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, der vergeblich versucht hatte, İmamoğlus Wahlsieg anzufechten.

Den weiteren Umbau Istanbuls aufzuhalten, ist eines der Hauptanliegen des neuen Oberbürgermeisters. Mit diesem Umbau verfolgen Erdoğan und die AKP sowohl wirtschaftliche als auch ideologische Ziele. Die Bauprojekte generieren Aufträge für regierungsnahe Konzerne. Zugleich sollen Wahrzeichen des multikulturellen Istanbuls im Sinne der islamisch-konservativen, neoosmanischen Ideologie des Präsidenten umgemodelt werden.

Tolunay steht vor einem mannshohen Hochglanzdruck von Fractalistanbul. Darauf ist die Hagia Sophia zu sehen. Im sechsten Jahrhundert als byzantinische Kirche errichtet, diente das einzigartige monumentale Bauwerk 1453 bis 1935 als Moschee, danach als Museum. Im Juli wurde die Hagia Sophia wieder in eine Moschee umgewandelt. Intellektuelle wie er spotten über ein »osmanisches Disneyland«, aber das Lachen ist ihnen längst vergangen. Bis 2023, wenn der 100. Jahrestag der Republikgründung gefeiert wird, soll Istanbul ein neues Gesicht haben – fromm und monumental soll die Stadt zu Ehren der Autokratie erstrahlen.

Die Architektenkammer Istanbul dokumentiert auf ihrer Website, wie der Umbau der Stadt seit 2010 systematisch vorangetrieben wird. Die Umgestaltung des Taksim-Platzes war 2013 der Anlass für die Gezi-Proteste, die sich später gegen die autoritäre Herrschaft der AKP richteten. Sukzessive wurde der an dem Platz gelegene Atatürk-Kulturpalast abgerissen. Gegenüber wächst eine große Moschee. Auf dem gesamten Platz stehen nun angeblich historische Zuckerbäckerbauten, die es dort, im europäisch geprägten Teil der Stadt, früher allerdings nie gegeben hat.

Die Regierung, die seit Jahren die meisten Medien kontrolliert, deutet mit Hilfe vor allem von nationalreligiös motivierten Hobbyhistorikern die Geschichte um. Murat Bardakçı etwa ist Autor von Geschichtsromanen. Er unterstützt die historischen Verdrehungen des Präsidenten, der seit geraumer Zeit von einem »Recht des Schwertes« spricht, das die Muslime durch die Eroberung Konstantinopels 1453 errungen hätten. Das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei entschied am 10. Juli, dass die Entscheidung des Ministerrats im Jahr 1934, die Hagia Sophia in ein Museum umzuwandeln, ungültig gewesen sei, da sie gegen einen osmanischen Rechtstitel verstoße, der das Bauwerk zur Moschee erklärt habe.

In Museen wie dem 2009 eröffneten Istanbuler »Panorama-Museum« wird diese Sicht auf die Geschichte spektakulär aufbereitet: Osmanische Truppen stürmen die Mauern Konstantinopels, blauer und roter Rauch steigt auf – das Ganze präsentiert in einer Weltkugel. Allmachtsphantasien und Größenwahn werden hier auf fast schon kindische Weise in Szene gesetzt.

Tarık Tolunay nennt sich kent çizer, Stadtzeichner, eine Bezeichnung, die in diesem Zusammenhang einen sehr politische Klang hat. Istanbul ist das ökonomische und kulturelle Zentrum des Landes, es ist von immenser Bedeutung, wer hier das Sagen hat. Die AKP verteidigt ihre Macht nicht zuletzt dadurch, dass sie Oppositionelle juristisch belangt. Tolunay dokumentierte in den vergangenen Jahren als Gerichtszeichner mehrere Prozesse. Die Medien werden zensiert, doch den Zeichnern bieten sich immer noch Nischen.

Kulturmäzen vor Gericht. Der Zeichner Tolunay dokumentierte den Prozess
Kulturmäzen vor Gericht. Der Zeichner Tolunay dokumentierte den Prozess

 

Von Bahçeşehir aus fährt Tolunay mit dem Auto eine Stunde zum Justizkomplex von Silivri in Thrakien, in dem die meisten politischen Gefangenen einsitzen; dort gibt es auch ein Gerichtsgebäude. Er verfolgte dort den Gezi-Prozess, seine Zeichnung des Kulturmäzens Osman Kavala, der seit über drei Jahren in Untersuchungshaft sitzt, wurde über die sozialen Medien weit verbreitet. Tolunay ist auch Cartoonist und Comiczeichner, doch die Zeiten, in denen politische Satire in der Türkei einflussreich war, sind vorbei. Satirezeitschriften verkauften bis Ende der neunziger Jahre Hunderttausende Exemplare, ihre Verbreitung suchte weltweit Ihresgleichen. Bei LeMan und ­Uykusuz sanken die Verkaufszahlen, Penguen, eines der bedeutendsten ­Magazine, stellte 2017 nach mehreren Gerichtsprozessen sein Erscheinen ein.

Das Vorgehen gegen Satiriker ist Teil der allgemeinen Repression. Sezgin Tanrıkulu, ein Abgeordneter der CHP, veröffentlichte im November einen ­Bericht über die staatlichen Verstöße gegen die Meinungsfreiheit in der Türkei in den ersten neun Monaten des Jahres. Demnach wurden 29 Journalisten, Verleger und Schriftsteller verurteilt, gegen 57 Journalisten wurde ein Ermittlungsverfahren eingeleitet, 65 wurden festgenommen, 20 Journalisten waren physischer Gewalt ausgesetzt und mussten ärztlich behandelt werden, 527 Veröffentlichungen wurden verboten.

Nach Angaben des Redaktionsnetzwerks Deutschland wurden zwischen Erdoğans Wahl zum Staatspräsidenten im Sommer 2014 und Ende 2019 mehr als 63 000 Menschen wegen Präsidentenbeleidigung angeklagt und 9 554 von ihnen verurteilt; in den sieben Amtsjahren seines Vorgängers Abdullah Gül waren es 233 Verurteilungen. In der Rangliste der NGO Reporter ohne Grenzen nimmt die Türkei den 154. Platz von 180 Ländern ein. Gleich ob es um respektlose Satire, unliebsame Meinungen oder unerwünschte Informationen geht – die Regierung versteht keinen Spaß. »Den Humor haben wir hier nicht eingebüßt«, sagt Tolunay, »aber die Bedingungen, sich Gehör zu verschaffen, haben sich grundlegend verändert.«