Die Gruppe »Muslim interaktiv« geizt nicht mit Nazivergleichen und Rassismusvorwürfen

Alles Faschos außer Allah

Die Gruppe »Muslim interaktiv« wirbt mit vermeintlich antirassistischen Aktionen junge Muslime. Dem Hamburger Verfassungsschutz zufolge stehen ihre Anhänger der verbotenen Organisation Hizb ut-Tahrir nahe.

Als ein Islamist am 16. Oktober vergangenen Jahres den Lehrer Samuel Paty in einem französischen Vorort brutal ermordete, fand zwei Tage darauf ein Angriff statt, der in der medialen Verarbeitung des neu aufgeflammten jihadistischen Terrors unterging. In der Nähe des Pariser Eiffelturms beleidigten zwei Hundebesitzerinnen zwei muslimische Frauen rassistisch und verletzten sie mit mehreren Messerstichen, nachdem ein Streit um die nicht angeleinten Hunde entstanden war. Die Gruppe »Muslim interaktiv« nahm diesen Angriff zum Anlass, um am 30. Oktober auf dem Pariser Platz vor der französischen Botschaft in Berlin zu protestieren – noch am Abend zuvor hatten am selben Ort Menschen der drei Opfer eines weiteren Attentats in einer Kirche gedacht, das ein Islamist in Nizza verübt hatte. Statt um die verletzten Glaubensgenossinen ging es den Kundgebungsteilnehmern jedoch darum, gegen den französischen Prä­sidenten zu hetzen. Dieser hatte Anfang Oktober eine vielbeachtete Rede gehalten, in der er konstatierte, dass sich der Islam weltweit in einer Krise befinde; der »radikale Islam« solle künftig in Frankreich zurückgedrängt werden, unter anderem dadurch, dass Kinder aus benachteiligten Vierteln öffentliche Schulen besuchen müssen und die Finanzierung von Moscheen und islamischen Vereinen stärker kontrolliert wird.

»Nicht der Islam, sondern Frankreich ist in der Krise!« proklamierten hingegen Teilnehmer auf einem Banner. Der Sprecher in einem dazugehörigen Youtube-Video geißelte die »islamfeindliche Grundeinstellung Macrons« und stieß folgende Warnung aus: »Eure koloniale Vergangenheit, euer offenkundiger Rassismus, eure bestialischen Völkermorde und euer Islamhass holen euch ein.« Die Minderheitenpo­litik, die sich »ausschließlich in Zersetzungsversuchen anderer Identitäten und Kulturen« äußere, sei gescheitert. Passend dazu hielten einige Teilnehmer Schilder in die Luft, die der nichtmuslimischen Mehrheitsgesellschaft eine »Zwangsassimilation« und »Wertediktatur« unterstellten. Dabei marschierten die knapp 70 männlichen Teilnehmer zeitweise in Formation und trugen einheitliche Kleidung: schwarze Kapuzenpullover mit rotem Aufdruck, einem roten Blutstropfen mit dem Symbol der Kaaba, dem Wallfahrtsort der Muslime in Mekka.

Das jüngste Video auf Youtube widmet sich dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz, der nach dem islamistischen Anschlag in Wien am 2. November vergangenen Jahres Repressalien gegen islamistische Straftäter und Gefährder ankündigte sowie einen Straftatbestand »politischer Islam« einführen wollte, »um gegen diejenigen vorgehen zu können, die selbst keine Terroristen sind, aber den Nährboden für solche schaffen«, wie Kurz auf Twitter schrieb. »Muslim interaktiv« organisierte daher eine Kundgebung vor der österreichischen Botschaft im Berliner Ortsteil Tiergarten. In einem Video, das die Gruppe unter dem Hashtag »AnschluSS Österreich« veröffentlichte und das auf die Abkürzung der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS) anspielt, proklamiert der Sprecher, dass der »totalitäre Geist von 1933« wieder da sei: »Im Jahr 2020 geht es nicht um die Marginalisierung von Juden, sondern der islamischen Glaubensgemeinschaft Österreichs.« Indem die von Bundeskanzler Kurz angekündigten Verschärfungen mit der »Gestapo-Manier« des Nationalsozialismus gleichgesetzt werden, suggeriert die Gruppe, dass Muslime die neuen Juden seien.

Für Eren Güvercin, den Mitgründer des Vereins Alhambra-Gesellschaft, war bereits seit dem ersten Auftritt der Gruppe im März vergangenen Jahres klar, woher diese stammt: Auf Twitter warnte er vor ihr als »neueste Marke am Hizb-ut-Tahrir-Horizont«. Die Islamismusexpertin Sigrid Herrmann-Marschall ordnete sie anderen der Hizb ut-Tahrir nahestehenden Netzwerken wie »Generation Islam« und »Realität Islam« zu, die nach außen harmlos wirken, weil sie in ihren Veröffentlichungen vermeintliche Alltagsthemen für Muslime aufbereiten. Hermann-Marschall warnt jedoch: »Im Hintergrund steht das übergeordnete Ziel, aus den Muslimen in Deutschland eine Umma (deutsch für: Glaubensgemeinschaft) zu formen.«

Dem Hamburger Verfassungsschutz zufolge, der Anfang Dezember über den Hintergrund von »Muslim interaktiv« informierte, stehen alle drei Gruppen der islamistischen Hizb ut-Tahrir nahe. Die 1953 gegründete Organisation strebt nach einem globalen Kalifat, in dem die Sharia-Gesetze gelten. In Großbritannien, wo ihr Hauptsitz liegt, agiert sie als offizielle Partei, während sie in fast allen Ländern mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit verboten ist; ihr deutscher Ableger wurde 2003 verboten (Getarnte Propagandisten). In Hamburg werden ihr 300 Anhänger zugerechnet, Kader rekrutiert sie vornehmlich an Gymnasien und Universitäten, was ihrem Selbstbild als elitäre Bewegung entspricht. Nach Angaben des Hamburger Verfassungsschutzes stammen die Organisatoren von »Muslim interaktiv« ebenfalls aus Hamburg; obwohl die Behörde ihr lediglich 100 Personen zurechnet, erreicht sie über die sozialen Medien eine ungleich höhere Aufmerksamkeit.

Das gelang auch mit einem unangemeldeten Autokorso von etwa 60 Fahrzeugen in der Hamburger Innenstadt Anfang März vergangenen Jahres. Dort thematisierten Anhänger von »Muslim interaktiv« den Anschlag in Hanau, wo ein deutscher Attentäter im Februar neun Menschen in zwei Shishabars aus rassistischen Gründen ermordet hatte, bevor er seine Mutter und sich selbst getötet hatte. Neben einzelnen Politikern wie Horst Seehofer (CSU) oder dem ehemaligen Verfassungsschutzpräsidenten Hans-Georg Maaßen, die sich in der Vergangenheit generell abschätzig über den Islam geäußert hatten, unterstellten sie der gesamten »politischen Mitte« eine Mittäterschaft. Das rassistische Attentat deuteten sie als einen Angriff auf Muslime um, obwohl nicht alle Opfer muslimisch waren. Zwei Youtuber, die den Kanal »Logtube« betreiben und die mit ihren Straßencomedy-Videos knapp 250 000 Abonnenten erreichen, veröffentlichten ein eigenes Video zur Aktion, in dem der politische Aktivismus kraftstrotzend und als Teil eines konsumorientierten Lifestyles daherkommt: Nach einem Besuch des Lieblingsfriseurs und der Moschee fangen sie den Autokorso filmisch ein; unterlegt mit einem basslastigen HipHop-Beat werden teure BMW und Lamborghinis als Statusobjekte inszeniert. »Jetzt denkt nicht, wir sind radikal oder so, aber wir wollen einige Muslime aufwecken«, fasst einer der beiden die Aktion zusammen.

Dem Politikwissenschaftler Jakob Baier zufolge geraten Jugendliche, die nach einer strengen Lesart muslimischer Glaubenslehre leben, in Konflikt mit liberalen Gesellschaftsvorstellungen. Das Protzen mit Männlichkeit und kapitalistischen Statussymbolen in Kombination mit Vorstellungen religiöser Sittsamkeit zeige sowohl ein Bedürfnis nach einer gesellschaftlichen Anerkennung als auch nach einer widerspruchsfreien muslimischen Identität. Gesellschaftliche Widersprüche würden häufig bekämpft oder verschwörungstheoretisch umgedeutet, Letzteres sei eine Entlastungsstrategie. Ein Beispiel dafür ist ein weiteres Video, das die Terroranschläge auf das World Trade Center am 11. September 2001 – dem Tag, an dem die Hetze und Verteufelung der Muslime angefangen habe – thematisiert und nach den »wahren Terroristen« fragt. »Die Kritik am islamistischen Terror, der seine Legitimation in reli­­­giösen Schriften findet, wird damit abgewehrt und auf sinistre Kräfte pro­jiziert«, sagte Baier der Jungle World.