Die Bauernproteste in Indien dauern an

Picknicken, bis die Polizei kommt

In Indien dauern die Proteste gegen die wirtschaftsliberale Agrarreform der hindunationalistischen Regierung an. Die Bauern befürchten, ihr Land an Lebensmittelkonzerne zu verlieren.

Auf den ersten Blick sieht die Schnellstraße nach Delhi im indischen Bundesstaat Haryana aus wie ein kilometerweites Picknickfeld. Zwischen unabsehbar langen Schlangen geparkter Traktoren sitzen Bauern aus sämtlichen Teilen des Landes, vor allem aus der nordöstlichen Region Punjab, der Kornkammer Indiens. Alle paar Hundert Meter findet sich ein Stand, an dem Essen verteilt wird, es gibt Linsen, Reis und Brot, aber auch Pizza. Im Sommer hat der Protest in den Dörfern angefangen, aber um die Regierung stärker unter Druck zu setzen, sind die Bauern zur Hauptstadt gezogen. Dies hat ihre Proteste weltweit bekannt gemacht, auch in Deutschland fanden im Dezember in Hamburg und Berlin Solidaritätskundgebungen statt.

»Obwohl Frauen an allen großen land­wirtschaftlichen Protest­bewegun­gen beteiligt waren, haben die Anführer ihre Belange oft­mals un­beachtet gelassen.« Seema Kulkarni, Leiterin der NGO Makaam

Die regierende hindunationalistische Partei Bharatiya Janata Party (BJP) hat im September eine umfassende Liberalisierung des Agrarsektors beschlossen. Es geht im Kern darum, die Preisgarantien der staatlichen Abnehmer für Grundnahrungsmittel wie Weizen und Reis abzuschaffen. Stattdessen sollen Lebensmittelkonzerne direkt mit den Bäuerinnen und Bauern den Preis aushandeln. Die Regierung verspricht, dies werde die Korruption mindern und für eine effizientere Verteilung sorgen.

Amol Singh aus Patiala im Südwesten des Bundesstaats Punjab ist einer der Protestierenden. Sein Vater und er gehören zu den Anführern der Bharatiya Kisan Union, einem Zusammenschluss von insgesamt 32 Bauernverbänden, die zu Protesten aufgerufen haben. Er fürchtet, dass große Unternehmen die Preise so sehr drücken werden, dass die Existenz vieler Bauern und Bäuerinnen bedroht sei. »Es geht nicht nur um die Preispolitik«, sagt Singh im Gespräch mit der Jungle World. »Langfristig wird dies den Unternehmen die Möglichkeit geben, die Produktionsbedingungen vor Ort zu verändern.« Bauern könnten einen immensen Teil ihres Landbesitzes an die Konzerne verlieren, diese könnten das Land nach und nach aufkaufen. Das bedrohe nicht nur die Lebensgrundlage der Landbevölkerung. »Die staatlichen Preisgarantien sind direkt mit dem nationalen Verteilsystem von subventionierten Lebensmitteln verbunden«, erklärt er. »Was die Regierung den Bauern zu festgelegten Preisen abkauft, das stellt sie dann den Ärmsten als Grundsicherung zur Verfügung.«

Die Landwirtschaftsreform setzt weitreichende ökonomische und soziale Umwälzungen fort, die die BJP-Regierung seit 2014 durchgesetzt hat. Sie schränkte Arbeitnehmerrechte erheblich ein und veränderte das Staats­bürgerschaftsgesetz tiefgreifend. Dieser Citizenship Amendment Act (CAA) schafft de facto ein Einwanderungssystem mit zwei Kategorien – für Muslime wird es schwieriger, einen Antrag auf Staatsbürgerschaft zu stellen, für alle anderen leichter. Wer nicht in das neu eingerichtete Einwohnerregister auf­genommen werden konnte, dem droht Abschiebung oder Internierung.

Nach Angaben der Bauerngewerkschaft Bharatiya Kisan Union starben bei den Protesten bis zum 20. Dezember 41 Menschen, überwiegend an Unterkühlung und Erkrankungen, einige begingen Suizid. Überdies griff die Polizei in mehreren Bundesstaaten die Protestierenden an.

In der Öffentlichkeit finden deren Forderungen weitgehend Zustimmung. Als die Regierung versuchte, das bru­tale Vorgehen der Polizei zu rechtfertigen und die protestierenden Bauern als irregeleitet und von Pakistan gesteuerte Terroristen darstellte, brach ein Proteststurm auf Twitter aus, nicht nur in ­Indien, sondern auch in Ländern wie Kanada, wo viele Menschen aus dem Punjab Verwandtschaft haben. Mittlerweile hat die Regierung ihre Propaganda gemäßigt.

»Wir sind alle darauf angewiesen, dass wir etwas zu essen bekommen, die Menschen wissen, dass sie die Bauern brauchen«, sagt Atif Jung im Gespräch mit der Jungle World. Sein Vater arbeitet in der Landwirtschaft, er selbst promoviert über den politischen Einfluss von Bauernverbänden im Bundesstaat ­Uttar Pradesh. Aber er weist auch darauf hin, dass man die Spannungen unter der Bauernschaft beachten müsse. »Wenn man sich ansieht, wer die Bewegung gerade anführt, dann sind es vor allem Sikhs aus dem Punjab und Jats aus Haryana. Mit Sicherheit sind diese Regionen am stärksten betroffen, aber es fällt auch auf, dass zum Beispiel die muslimische Landbevölkerung in der Bewegung kaum präsent ist.«

Bei den Jats handelt es sich um eine vorwiegend konservative, bäuerliche Bevölkerungsgruppe, die bisher die Regierung mehrheitlich unterstützte. Überdies, so Jung, seien auch viele Geldverleiher an den Protesten beteiligt, die oft horrende Zinsen verlangen und ihre Einnahmen durch die Reformen gefährdet sehen. Um Gruppen zurückzugewinnen, die die BJP zu ihrem Wählerpotential zählt, laufen derzeit Verhandlungen zwischen der Regierung und den Bauernverbänden, die bislang jedoch ergebnislos blieben.

Vor allem internationale Medien sehen in den Bauernprotesten einen Aufstand der kleinen Leute gegen neoliberale Reformen und auch eine Fortsetzung der Proteste gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz. Aber so einfach ist es nicht. Die derzeitige Kampagne unterscheidet sich mit ihren hauptsächlich männlichen Anführern grundlegend von den Protesten des vorigen Jahres. Damals hatten Menschenmengen in der winterlichen Kälte ausgeharrt und Straßen blockiert, um auf die Menschenrechtsverletzungen der Regierung aufmerksam zu machen. An vorderster Front standen Frauen, Muslime und Dalits. Letztere werden aufgrund ihrer Kastenzugehörigkeit diskriminiert, obwohl es das Kastensystem offiziell gar nicht mehr gibt.

Eben diese Gruppen sind an der Bewegung gegen die Landwirtschaftsreform nur in geringem Ausmaß beteiligt. Als die Bharatiya Kisan Union Solidarität mit den Inhaftierten der Bewegung gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz zeigen wollte, distanzierten sich die anderen Bauernverbände der Protestbewegung sehr schnell. Repräsentanten dieser Organisationen sagten der Plattform The Print, man wolle mit »Separatisten« und »Antinationalen« nichts zu tun haben. Offenbar ist die Angst groß, dass die Bewegung delegitimiert wird wie zuvor jene für gleiche Rechte von Muslimen als indische Staatsbürger.

Fast alle sind sich einig, dass es in der Landwirtschaft nicht weitergehen kann wie bisher. Selbst wenn die Marktliberalisierung verhindert werden könnte, bleibt ein System mit großen Ungleichheiten. Vor allem für Frauen ist der Zugang zu Landeigentum noch immer schwierig. Dabei sind vor allem sie es, die auf den Feldern arbeiten – ein Großteil dessen wird als »Haus­arbeit« eingestuft.

Seema Kulkarni ist die Leiterin der NGO Makaam, die sich für die Rechte der Bäuerinnen einsetzt. Sie fordert, dass deren Forderungen von der Bewegung aufgenommen werden. »Obwohl Frauen an allen großen landwirtschaftlichen Protestbewegungen beteiligt waren, haben die Anführer ihre Belange oftmals unbeachtet gelassen«, sagt sie. Ein stärkerer Fokus auf die Verteilung und Nutzung von Ressourcen könne außerdem zu einem schonenderen Umgang mit diesen führen und zu einer ökologischen Landwirtschaft beitragen.

So sind es vor allem auch die Anführerinnen des Protests gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz, die nun drauf bestehen, sich mit den Bauern zu solidarisieren, selbst wenn diese ihnen ­distanziert bis ablehnend gegenüberstehen. »Wenn wir wollen, dass sich andere mit uns solidarisch zeigen, dann müssen wir selbst den Anfang machen«, sagt Nasreen Syed, die in Bangalore an der Organisation beider Protestbewegungen beteiligt ist. »Nur so können wir eine breitere Bewegung gegen die Regierung schaffen. Wir müssen Allianzen bilden.«