Das System der Fallpauschalen führt die Krankenhäuser in die Krise

Corona essen Kliniken auf

Die Pandemie stürzt die ohnehin unterfinanzierten Krankenhäuser in eine ökonomische Krise. Das System der Fallpauschalen auszusetzen, ist jedoch weiterhin nicht vorgesehen.

Die Krankenhäuser schlagen Alarm. Einer aktuellen Umfrage des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI) zufolge erwartet weniger als ein Drittel der chronisch unterfinanzierten Kliniken für 2020 ein positives Jahresergebnis; hülfe der Bund nicht aus, könnten sie die Gehälter nach dem ersten Quartal 2021 nicht mehr zahlen. Bereits im Vorjahr schrieb fast jede zweite Klinik rote Zahlen.

Eine Ursache dieser Situation liegt im Jahr 2004. Damals wurde in Deutschland die Finanzierung der Krankenhäuser über sogenannte Fallpauschalen eingeführt: Jeder Patient wird einer »dia­gnosebezogenen Fallgruppe« zugeteilt, für jede Gruppe gibt es eine bestimmte Pauschale. Wie die Autoren einer Broschüre des Bündnisses »Krankenhaus statt Fabrik« kritisieren, sind die Kliniken dazu angehalten, über die behandelten Fälle ausreichend Geld für die Aufrechterhaltung ihrer Infrastruktur einnehmen, inklusive der Personalkosten. Dafür müssen sie ihre Kapazitäten stets möglichst komplett ausschöpfen und die Produktionskosten niedrig halten. Häufig werden die Patienten schnell entlassen, weil das Genesen im Krankenhausbett keine Einkünfte bringt.

Auch schnellte in Deutschland die Zahl einzelner operativer Eingriffe mit hohen Fallpauschalen in die Höhe: Wurden im Jahr 2013 149 000 künstliche Kniegelenke eingesetzt, lag die Zahl 2016 bei 169 000, also über 18 Prozent höher. Die Zahl der Behandelten unter 60 Jahren stieg sogar um 31 Prozent. Zugleich spezialisierten sich mehr Kliniken auf Behandlungstechniken, die hohe Pauschalen versprachen. Das System der Fallpauschalen erzeugt zudem Rationalisierungsdruck, deshalb wird durch Arbeitszeitverdichtung insbesondere Pflegepersonal eingespart. Arbeiteten in den neunziger Jahren noch rund 350 000 Pflegekräfte in deutschen Krankenhäusern, sind es heutzutage nur noch knapp 300 000.

Noch ein halbes Jahr vor dem Ausbruch der Pandemie wurde öffentlich diskutiert, wie man vermeintliche Überkapazitäten abbauen könnte. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung argumentierte, größere Kliniken würden dazu beitragen und zudem mit besserer Ausstattung und erfahrenerem Personal höhere Leistungen erzielen. Deshalb sei es sinnvoll, die Zahl der Krankenhäuser in Deutschland von 1 400 auf 600 zu senken. Dieser Vorschlag stieß auf breite Kritik, nicht zuletzt weil sich die Versorgung in ländlichen Gebieten verschlechtern würde.

Der ökonomische Zwang, die Krankenhäuser möglichst auszulasten, wurde während der Pandemie zu einem Problem, weil die für Covid-19-Patienten freigehaltenen Betten finanzielle Ausfälle bedeuteten. Ein Beschluss des Bundes und der Länder vom März forderte die Krankenhäuser dazu auf, alle planbaren Eingriffe zu verschieben und ausreichend Platz für Intensivbetten zu schaffen. Doch für »kalte Betten« gab es keine Pauschale. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) schlug vor, die Fallpauschalen von April bis Dezember 2020 ganz auszusetzen.

Das Gesundheitsministerium unter Jens Spahn (CDU) folgte diesem Vorschlag nicht. Stattdessen führte es unter anderem sogenannte Freihaltepauschalen ein, die den Kliniken pro freigehaltenem Bett und Tag 560 Euro bescheren. Um möglichst viel Gewinn mit diesen zu erzielen oder aber zumindest Verluste zu vermeiden, wägten Klinikleitungen ab, ob ein freies Bett mehr Geld einbringt als eine belegtes. Dem Abschlussbericht des Expertenbeirats zufolge, der die wirtschaftlichen Auswirkungen der Gesetzesänderungen auf die Krankenhäuser untersuchte, konnten gemeinnützige und private Krankenhäuser ihre Erlöse im Vergleich zum Vorjahreszeitraum steigern. Größere Kliniken, die Betten für Covid-19-Patienten freihalten mussten, gingen jedoch leer aus oder machten Verluste.

Der Expertenbeirat schlug daher eine Staffelung der Freihaltepauschalen ab Juli 2020 vor. Dem entsprach das Ministerium; die Krankenhäuser wurden in fünf Gruppen eingeteilt, denen Freihaltepauschalen in Höhe von 360 bis 760 Euro zugeordnet wurden. Was zunächst gerechter klang und den Universitätskliniken mehr Geld einbrachte, hatte abermals einen Haken. Denn maßgeblich für die Zuordnung zu den einzelnen Gruppen war der sogenannte Case-Mix-Index. Dieser wird ermittelt durch eine Berechnung der Material-, Sach- und Personalkosten. Durch komplexe Operationen mit teuren Prothesen konnten Krankenhäuser den Index steigern und in eine höhere Gruppe aufsteigen. Verlierer waren die kleinen, wenig spezialisierten Kliniken, die aber dennoch Intensivbetten freihielten.

Nachdem das modifizierte Modell Ende September ausgelaufen war, stiegen die Operationszahlen rasch an. Als der Bundestag am 18. November schließlich das »Dritte Bevölkerungsschutzgesetz« verabschiedete, das wiederum Freihaltepauschalen enthielt, versicherte der Bundesgesundheitsminister, dass damit die Krankenhäuser bei der Behandlung von Covid-19-Patienten »zielgenau« unterstützt würden. Nun erhalten nur diejenigen Krankenhäuser eine Freihaltepauschale, in deren Kreis die Siebentageinzidenz der Covid-19-Fälle über 70 pro 100 000 Einwohner und der Anteil »freier betreibbarer intensivmedizinischer Behandlungskapazitäten« unter 25 Prozent liegt. Darüber hinaus müssen die Häuser bei der Notfallaufnahme mindestens die Stufe II, die erweiterte Notfallversorgung, erreichen. Bietet das Krankenhaus nur die sogenannte Basisnotfallversorgung an, geht es leer aus. Die Stufen II und III erreicht schätzungsweise jedoch lediglich ein Viertel aller Krankenhäuser. Gerald Gaß von der DKG beurteilte diese Regelung als »kompliziert, kleinteilig und völlig unzureichend«.

Vom Vorschlag der DKG, die Fallpauschalen zumindest zeitlich befristet auszusetzen, möchte niemand mehr etwas hören. »Wahrscheinlich hat man Angst, dass man sie, wenn sie einmal wegfallen, nie wieder einführen kann«, sagte Nadja Rakowitz vom Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« der Jungle World. Wird am System der Fallpauschalen festgehalten, könnte es passieren, dass die nächste Krise – auch ganz ohne das Zutun der Bertelsmann-Stiftung – mit nur halb so vielen Krankenhäusern bewältigt werden muss.