Im Gespräch mit der Historikerin Brigitte Studer über die Geschichte der Kommunistischen Internationale

»Die Zukunft schien nah«

Eine global vernetzte Avantgarde erwartet die Revolution: Die Historikerin Brigitte Studer, die die Geschichte der Kommunistischen Internationale erforscht, erklärt, warum der arbeitsteilige Alltag der Komintern für viele Mitglieder eine Enttäuschung war.
Interview Von

Mit welchem Ziel wurde die Komintern 1919 in Moskau von den Bolschewiki gegründet?

Die Führer der Russischen Revolution wie Lenin und Trotzki folgten der Strategie, die Marx und Engels mit dem »Kommunistischen Manifest« vorgezeichnet hatten: »Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!« Für die Bolschewiki ging es aber auch darum, durch die Ausweitung der proletarischen Revolution auf andere Länder die Existenz ihres noch schwachen und international isolierten neuen Staats zu sichern. Das war in ihren Augen nur möglich, wenn auch andere Länder, in erster Linie Deutschland, dem Beispiel der Russischen Revolution folgen würden. Der Protest, der Aufruhr, die Streiks und die Revolten in vielen Ländern im Kontext der Nachkriegskrise, die in Teilen Deutschlands und in Ungarn sogar zu Räterepubliken geführt hatten, sollten in einer schlagkräftigen internationalen Organisation kanalisiert werden, um ihr revolutionäres Potential zu nutzen. Beim ersten Kongress waren aber erst wenige ausländische Vertreter und Vertre­terinnen in Moskau anwesend. Das war am II. Weltkongress im Sommer 1920 bereits anders.

»Vor allem war es für die Delegierten, die politische Erfahrungen in der revolutionären Welle nach 1917 gesammelt hatten, höchst stimulierend, so
viele Gleichgesinnte aus der ganzen Welt in einem gemeinsamen Diskussionsraum zu treffen.«

Zu dieser Zeit konnten sich noch verschiedene politische Ansichten und Strömungen unter dem Dach der Komintern sammeln. Wer kam bei diesem II. Weltkongress zusammen?

1920 waren Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus 37 Ländern anwesend. Es kamen Menschen aus Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Australien. Sie repräsentierten zum einen die ersten kommunis­tischen Parteien, zum anderen aber auch antikolonialistische, antiimpe­rialistische, anarchistische, syndikalistische, linksradikale und feminis­tische Strömungen und Organisationen. Anwesend waren aber auch ­einige Vertreter der Sozialdemokratie, die in den Augen der jungen oder jüngeren Revolutionäre, wie etwa Willi Münzenberg, Verräter an der proletarischen Sache waren.

Für viele dieser Revolutionäre war die Revolution eine konkrete und gegenwärtige Erfahrung. Wie beeinflusste das die Stimmung auf der Veranstaltung?

Die Gastgeber hatten den Kongress auch als öffentliches Ereignis mit vielen Empfängen und Massenaufläufen vorbereitet, die die internati­onale Solidarität in Szene setzen sollte. Vor allem war es für die Delegierten, die, wie gesagt, politische Erfahrungen in der revolutionären Welle nach 1917 gesammelt hatten, höchst stimulierend, so viele Gleichgesinnte aus der ganzen Welt in einem gemeinsamen Diskussionsraum zu treffen. Die politischen Auseinandersetzungen waren zwar zum Teil heftig, doch es herrschte allgemeine Aufbruchstimmung, die Zukunft schien nah.

Bereits 1920 tagte ein Kongress der Komintern in Baku im heutigen Aserbaidschan, der die Ost­erweiterung der Organisation einleiten sollte. Nach 1921 erweiterte sich der »revolutionäre Osten« durch das Fernostsekretariat des Exekutivkomitees der Komintern bis nach China. War dies eine gleichberechtigte Zusammenarbeit?

Während es zahlreiche Studien zur Politik der Komintern und der ­Sowjetunion in China gibt, geht es in meinem Buch um die Frage, unter welchen Bedingungen die Abgesandten der Komintern ihre Aufgaben zu erfüllen hatten. Die meisten sprachen kein Chinesisch, das war das eine Problem. Sie waren zudem untereinander selten einig. Dies betraf nicht nur die Analyse der jeweiligen Lage, sondern sie waren zum Teil auch persönlich stark zerstritten. Ebenso war die Kommunikation mit Moskau schwierig. Doch letztlich fielen die grundlegenden Entscheidungen in Moskau, lagen konkret bei Stalin, und die sowjetischen Interessen dominierten.

Nach und nach kam es zu einer Professionalisierung der Kom­intern und die innerparteilichen Fraktionskämpfe wurden härter. Die Komintern wurde zu einer bürokratischen Institution, die selbst von den beteiligten Akteuren als »Apparat« bezeichnet wurde. Welche Rolle spielte Stalins Politik des »Sozialismus in ­einem Land« in diesem Zusammenhang?

Diese Politik drehte das Verhältnis zwischen Komintern und Sowjetunion regelrecht um. Für die Mitglieder der Komintern war die Sowjetunion zwar von Anfang an ihr Orientierungspunkt, im Sinn eines politischen Modells, ihr finanzieller Support und – ebenso wichtig – ihr Rückzugsort bei Repression. Sie war der politische und materielle Garant, dass sich die proletarische Revolu­tion in andere Länder ausbreitete. In diesem Sinne war es für die Kom­intern existentiell, dass die Sowjetunion auch in Zukunft Bestand ­hatte. Mit Stalins Politik des »Sozialismus in einem Land« wurde jedoch die Komintern zur Stütze der Sowjetunion, auf Kosten des Internationa­lismus und der revolutionären Ziele in den jeweiligen Ländern.

Die konkrete Revolutionshoffnung und der utopische Erwartungsüberschuss wichen immer mehr der Bürokratie und dem Alltag ­einer Schreibtischtätigkeit. Sie schreiben gar von »Langeweile«. Wie veränderte dies die politischen Inhalte und Forderungen der Organisation?

Wie gesagt war die Gründung der Komintern mit unmittelbarer Revolutionserwartung verbunden. Da war für die Beteiligten viel Improvisation, auch Abenteuerlust im Spiel. Als der Revolutionshorizont allmählich verschwand, wurde der Apparat der Komintern rigider organisiert, die Ausgaben wurden strikter kontrolliert und vor allem wurde eine intensive Routine in der Berichterstattung entwickelt. Die Arbeit wurde somit immer mehr zur Schreibtischtätigkeit. Das Ganze nahm solche Ausmaße an, dass sich die Berichte im Kom­interngebäude in Moskau offenbar ungelesen stapelten. Wichtiger als konkrete Erfolge auf dem Terrain wurde bald, ob die politische Linie befolgt wurde.

Zeigte sich dieser Wandel hin zur Avantgardeorganisation auch in der Zusammensetzung der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Komintern?

Zu Beginn 1920 kamen noch sehr unterschiedliche Persönlichkeiten zusammen. Um nur einige zu nennen:  Zwischen der jungen und etwas naiven Hilde Kramer, dem antikolonialen Aktivisten Manabendra Nath Roy, der auf der Suche nach Waffen und Unterstützung für den Befreiungskampf der Inder gegen die britischen Kolonialherren bereits einmal um die Welt gereist war, dem pazifistischen ehemaligen Westschweizer Pastor Jules Humbert-Droz und dem bereits erfahrenen Kominternemissär Borodin zum Beispiel gab es kaum Gemeinsamkeiten, weder sozial, kulturell noch vom Charakter her. In den dreißiger Jahren stießen hin­gegen viel eher disziplinierte Parteikader zur Komintern und veränderten damit die Organisation grundlegend.

Welche Rolle spielten Frauen?

Es gab mehr Frauen in der Komintern, als die Geschichtswissenschaft bislang wahrgenommen hat. Sie ­reproduziert nämlich meist die Geschlechterhierarchien der Quellen und der kommunistischen Organisationen. In diesen waren Frauen und Männer dem Programm nach zwar gleichgestellt, doch in Wirklichkeit erhielten Frauen nur in Ausnahmefällen verantwortungsvolle Funktionen. Sie erfüllten jedoch eine Vielzahl absolut unerlässlicher Aufgaben, wie etwa das Chiffrieren von Geheimtelegrammen oder das Stenographieren der vielen Protokolle oder das Übersetzen der Texte in all die Sprachen der Komintern. Das waren aber Funktionen, die im Hintergrund blieben.

1943 löste Stalin die Komintern auf. War dies das Ende der internationalistischen Orientierung?

Lassen Sie es mich so sagen: Die Nachfolgeorganisationen in Moskau oder die Kominform traten nicht mehr öffentlich in Erscheinung und waren reine Funktionärs- und Spitzenorganisationen.

Objektiv betrachtet ist die Geschichte der Komintern ein Misserfolg. Alle größeren Einsätze – wie in China oder im Spanischen Bürgerkrieg – endeten mit Niederlagen. Gibt es trotzdem bleibende Erfolge?

Der politische Internationalismus der Komintern erachtete die nationale Zugehörigkeit im Vergleich zur Organisationszugehörigkeit als irrelevant. Die Kominternangestellten arbeiteten vielfach mit Aktivisten und Aktivistinnen anderer Nationalität zusammen und sie überschritten auch immer wieder ganz konkrete nationale Grenzen, oft illegal. Sie überwanden nicht nur räumliche, sondern auch kulturelle Distanzen, führten vielfältige Beziehungen.

Was können heutige Bewegungen von der Geschichte der Komintern lernen?

Sich nie von einem Staat und für seine Ziele vereinnahmen zu lassen.

Brigitte Studer: Reisende der Weltrevolution. Eine Globalgeschichte der Kommunistischen Internationale. Suhrkamp, Berlin 2020, 618 Seiten, 30 Euro