In der Regatta Vendée Globe müssen die Teilnehmenden an ihre Grenzen gehen

Lockdown auf hoher See

Die Teilnehmer der Regatta Vendée Globe müssen nonstop die Erde umsegeln. Auch hier treibt der Zwang zur Selbstoptimierung bei Spitzensportlern seltsame Blüten.

Sie hängen in bequemen Gaming-Stühlen fast rund um die Uhr vor dem Bildschirm. Sie sind ständig online, eine Videoschalte jagt die andere. Ihr Headset nehmen sie nur selten ab. Soziale Kontakte gibt es nur per Chat, ansonsten sind sie isoliert. Zwischendurch füttern sie ihre Hochleistungsrechner mit Daten und lösen knifflige Software-Probleme.

Was klingt wie der derzeitige Alltag im Homeoffice, gehört aber auch zu den Bedingungen der härtesten Regatta der Welt für Einhandsegler, der Vendée Globe. In internationalen Medien gilt sie als »Mount Everest des Segelsports«. Der Vergleich ist berechtigt: Der etwa 44 500 Kilometer lange Kurs führt ohne Zwischenstopp einmal rund um die Erde, vorbei an der Vereisungsgrenze und durch schwierige Gewässer wie das vor Kap Hoorn. Leicht kann man Schiffbruch erleiden, wenn man zur Unzeit einschläft oder die Navigationssoftware spinnt. Die Seglerinnen und Segler sind an Bord ganz auf sich gestellt, sie dürfen keinerlei fremde Hilfe annehmen außer technischer Beratung per Online-Kommunikation. Rund 80 Tage lang sind sie auf hoher See und bekommen niemanden zu Gesicht – außer am Bildschirm.

Manchmal filmen die Skipper ihre Jachten mit Drohnen, während sie über die Wellen brettern und die Gischt fliegt. In ihren Videonachrichten lassen die Segler ihren Emotionen freien Lauf, sie fluchen, lachen oder weinen

Die Jachten sind knapp 20 Meter lange Hightech-Wasserfahrzeuge aus ultraleichter Kohlefaser. Sie erreichen eine Höchstgeschwindigkeit bis zu 70 Kilometer pro Stunde. Für Landfahrzeuge ist das nicht allzu viel, doch auf den Weltmeeren mit ihren oft haushohen Wellen ist eine solche Geschwindigkeit atemberaubend und gefährlich. Die Segler verbringen daher die allermeiste Zeit in ihren Kajüten, an Deck ist es wegen des in vielen Weltregionen eiskalten Salzwassers und des permanent heulenden Windes zu unwirtlich. Wenn sie an Deck gehen müssen, um im Sturm Segel zu bergen oder gar für Reparaturen auf den hohen Mast zu steigen, während das Boot mit Autopilot weiter durch die Wellen rast, sind die Skipper danach mental und physisch vollkommen erschöpft.

Doch auch in der Kajüte ist es nicht gemütlich, die Luft gleicht der in einer Tropfsteinhöhle. »Es ist im Boot ja wie in einer Waschmaschine«, sagte die deutsch-französische Teilnehmerin Isabelle Joschke dem Spiegel. Sie war eine der sechs Skipperinnen, die zusammen mit 27 männlichen Konkurrenten um die Welt jagten. Für Joschke haben sich die Entbehrungen und Anstrengungen nicht gelohnt: Nach drei Vierteln der Strecke musste sie aufgeben, weil ihre Jacht im Sturm irreparabel beschädigt worden war. Es sei eine »masochistische Sache«, sich so etwas anzutun. Man mag ihr nicht widersprechen.

Die ersten Teilnehmer sollen ab dem 20. Januar im Ziel an der französischen Atlantikküste einlaufen. Gewinnen wird wohl der Franzose Yannick Bestaven, der Anfang Januar im Südatlantik dank cleverer Navigation einen kaum einholbaren Vorsprung heraussegelte, von dem er bislang zehrt. Aufhalten könnte ihn jedoch ein Ufo, ein unidentified floating object, wie zum Beispiel einer der vielen Container, die im Atlantik treiben. Eine solche Kollision widerfuhr dem Favoriten Briten Alex Thomson, der sich bereits nach zwei Wochen, nachdem das Rennen am 8. November in Les Sables-d’Olonne an der französischen Atlantikküste begonnen hatte, in den Hafen von Kapstadt retten musste.

Noch härter erwischte es Kevin Escoffier, einen weiteren Favoriten: Dessen Boot bohrte sich so hart in eine Welle, dass es in der Mitte durchbrach und binnen Minuten versank. Escoffier konnte sich in eine kleine aufblasbare Rettungsinsel retten und hatte nach einer lebensgefährlichen Sturmnacht das riesige Glück, von einem anderen Teilnehmer gefunden und aufgefischt zu werden. Die in Schockstarre geratenen Segelfans konnten den Seenotfall und die Rettung nahezu live an den heimischen Bildschirmen mitverfolgen. Mehr Drama geht im Sport kaum.

Die Faszination der Vendée speist sich aber nicht allein aus solchen Extremsituationen, sondern vor allem aus den spektakulären bewegten Bildern, die vom Medienteam des Veranstalters nur in geringem Maß aufbereitet werden und auf allen Online-Kanälen abrufbar sind. Manchmal filmen die Skipper ihre Jachten mit Drohnen, während sie über die Wellen brettern und die Gischt fliegt. In ihren Videonachrichten lassen die Segler ihren Emotionen freien Lauf, sie fluchen, lachen oder weinen. Bei kaum einem anderen Ereignis des Spitzensports bekommt man als Zuschauer so ungefiltert die psychische Belastung zu spüren, unter der die Teilnehmenden stehen – oder besser gesagt: der sie sich selbst aussetzen. Das Ganze hat etwas von »Big Brother«, einschließlich der dazugehörigen Fremdscham.

Die Vendée Globe wird seit 1992 alle vier Jahre ausgetragen. Anfangs eine rein französische Angelegenheit, entwickelte sich die Hochseeregatta im Laufe der Jahrzehnte zu einer der weltweit beliebtesten Sportveranstaltungen. Der Umfang der internationalen Medienberichterstattung und die Klickzahlen sind einzigartig. Allein beim Start, der immer im November wegen der dann optimalen Windbedingungen stattfindet, versammeln sich üblicherweise anderthalb Millionen Segelfans an der Steilküste des Atlantik – außer bei dieser Ausgabe, bei der das Coronavirus die Austragung der Regatta beinahe verhindert hätte und das ansonsten viel frequentierte sogenannte Race Village in Les Sables-d’Olonne geschlossen blieb. In Frankreich ist die Vendée Globe mindestens so bedeutend wie die Tour de France. Die teilnehmenden Segler – und zunehmend auch Seglerinnen – sind Nationalhelden, wie im benzinsüchtigen Deutschland beispielsweise der Rennfahrer Michael Schumacher.

Dass diesmal auch deutsche Medien ausgiebig über die Vendée berichten, liegt vor allem an dem 39jährigen Hamburger Boris Herrmann. Er ist der erste Deutsche, der an der Regatta teilnimmt. Einige haben es schon vor ihm versucht, doch trieben sie nie die Sponsoren auf, die es braucht, um ein solches Millionen Euro teures Unterfangen zu finanzieren.

Herrmann startet für den Jachtclub Monaco, der zugleich einer der Hauptsponsoren ist. Dessen Präsident ist Pierre Casiraghi, ein schwerreicher Sprössling der monegassischen Fürstenfamilie. Um seiner Segelleidenschaft zu frönen, gründete Casiraghi vor einigen Jahren ein Segelteam und heuerte dafür den profilierten Segler Herrmann an.

Dieser und Casiraghi erlangten weltweit eine gewisse Bekanntheit, als sie Greta Thunberg im August 2019 mit ihrer Rennjacht von England nach New York City beförderten. Auf dem dortigen UN-Klimagipfel hielt die Schwedin dann unter anderem ihre berühmt gewordene Rede mit der prägnanten Frage: »How dare you?« Thunberg hatte zuvor in den sozialen Medien kundgetan, möglichst emissionsfrei zum Gipfel anreisen zu wollen. Herrmann erkannte die Gelegenheit für einen PR-Coup und machte als Erster ein Transportangebot, das den Ansprüchen Thunbergs und ihres Vaters Svante entsprach.

Die Segelreise mit Thunberg erwies sich im Nachhinein unter dem Gesichtspunkt der Emissionsvermeidung allerdings als Fehlschlag. Wie die Taz aufdeckte, zog sie sechs Flugreisen nach sich: Herrmann und sein Mitsegler Casiraghi flogen von New York nach Europa zurück, während vier per Flugzeug angereiste Teammitglieder auf der Jacht zurücksegelten. Kritisiert wurde auch, dass Casiraghi Mehrheitsaktionär der Fluglinie Monacair ist.

Der Vorgang ist typisch für den gesamten Jachtsegelsport: Man rühmt sich damit, auf den Weltmeeren mittels Windkraft umweltfreundlich unterwegs zu sein, absolviert aber bei der An- und Abreise zu und von den Häfen zigtausende Flugkilometer. Vom enormen Ressourcenaufwand bei der Produktion von Segeljachten einmal ganz abgesehen: Insbesondere die bei Rennjachten zum Einsatz kommende Kohlefaser verschlingt bei der Produktion viel Energie.

Doch Herrmann hat der mediale Flop mit Thunberg nicht geschadet. Das liegt vor allem an seinem von vielen als sympathisch wahrgenommenen Auftreten bei der Vendée. In seinen täglichen Videobeiträgen von Bord gibt sich der Medienliebling bescheiden und selbstreflektiert: »Bei einem Rennen, wo alle sicher ankommen, da gibt es nur den sportlichen Aspekt. Aber hier ist das Ankommen schon so eine große Leistung!«

Ob Herrmann sich mit dem bloßen Ankommen zufrieden gibt, darf bezweifelt werden, dafür ist er viel zu ehrgeizig. Zu schaffen machen könnte ihm jedoch, wie den anderen Skippern auch, die enorme mentale Belastung bei der Vendée: »Meine größte Herausforderung ist das Alleinsein, das Management meiner eigenen Stimmung, Energie, Stärke. Es ist nicht leicht, mit dem Alleinsein umzugehen, sich nicht stressen zu lassen.« Das klingt kaum anders als bei allen anderen, die derzeit im Homeoffice zur Konfrontation mit sich selbst gezwungen sind.

Während die Teilnehmenden der Vendée sich bereits dem Ziel nähern und von Schlaflosigkeit ausgezehrt eine heiße Dusche und ein warmes, trockenes Bett ersehnen dürften, wird das nächste große Ereignis in Sachen Weltumsegelung vorbereitet. Am Sonntagmorgen stach vor der Bretagne der Trimaran »Edmond de Rothschild« mit einer sechsköpfigen Crew in See, um die Trophée Jules Verne für die schnellste Weltumsegelung zu ergattern. Der zu unterbietende Rekord steht bei 40 Tagen und 23 Stunden.