Rezension von Gabriela Muris Roman »Melvil oder Das verfügbare Gedächtnis«

Alles so schön bunt hier

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Melvil Given, ein aufgehender Stern am Himmel der Glasfaserbranche, ist nach einem erfolgreichen Geschäftsabschluss auf dem Rückflug von London nach Chicago. So beginnt Gabriela Muris Roman »Melvil oder Das verfügbare Gedächtnis«. Ein paar Drinks in der Business Lounge sollen dem Mann dabei helfen, den Großteil der vor ihm liegenden acht Flugstunden zu verschlafen. Denn am nächsten Morgen warten neue berufliche Herausforderungen und da muss er fit sein.

So hatte er sich das vorgestellt. Nicht gerechnet hat er damit, dass der Passagier neben ihm ein endlos scheinendes chinesisches Märchen erzählen würde, in dem Brüderchen und Schwesterchen beide ein elendes Ende nehmen. Nach sechs Stunden Flug ist der Märchenerzähler noch immer nicht fertig mit seiner ­Geschichte. Die Qualen, die der schläfrige Melvil empfindet, sind beachtlich.

Natürlich ahnt man, dass das alles etwas zu bedeuten hat. Nur Melvil bekommt es nicht mit. Zu sehr ist er in Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt, denn er pflegt neben seinen beruflichen Aktivitäten ein ungewöhnliches Hobby – in seiner Freizeit erforscht Melvil die Wirkung von Farbe erzeugenden Halluzinationszigaretten. Ein riesiger Wald in Kanada muss dem Glimmstängel, der den schönen Namen »Very Dream Gold« tragen soll, geopfert werden. Und nicht nur der Wald muss dran glauben, sondern auch mindestens ein Zigarettentester. Aber auch das kriegt der schwer gebeutelte Melvil nicht so richtig mit, denn seine Freundin verlässt ihn. Die Farben seines Fernsehers verblassen, auf dem Bildschirm erscheinen nur noch schwarzweiße Striche.

Melvils Weg ins Verderben zu verfolgen, macht gewaltigen Spaß. Der ahnt natürlich, dass es da irgendeinen Zusammenhang mit seinen Geschäften gibt, aber ob er den wirklich durchschaut, zeigt sich erst am Schluss dieser überschäumenden Satire aus der ungeahnte Möglichkeiten bietenden IT-Welt. Möglichkeiten wie aus einem endlosen chinesischen Märchen!

Gabriela Muri: Melvil oder Das verfügbare Gedächtnis. Songdog-Verlag, Bern und Wien 2020, 202 Seiten, 20 Euro