Neesa Medina, Soziologin und Mitglied des Netzwerks Somos Muchas in Honduras, über die Aufnahme des Abtreibungsverbots in die Verfassung des Landes und die Folgen für Frauen:

»Sie stürzen sich von Bäumen«

In Honduras ist das Abtreibungsgesetz seit 1997 sehr restriktiv. Im vergangenen Monat wurde das Abtreibungsverbot sogar in die Verfassung aufgenommen, was eine Legalisierung praktisch unmöglich macht. Honduras ist eines der ärmsten Länder Lateinamerikas und wird seit einem Putsch 2009 autoritär regiert. Immer wieder verlassen Zehntausende das Land, um über Guatemala und Mexiko in die USA zu gelangen. Ein Gespräch mit Neesa Medina, Soziologin und Mitglied des feministischen Netzwerks Somos Muchas, das sich für den ­Zugang zu legalen und sicheren Abtreibungen in Honduras einsetzt.

Honduras hat eines der härtesten Abtreibungsgesetze Lateinamerikas. Sogar die »Pille danach« ist verboten. Nun wurde selbst die Möglichkeit, den Schwangerschaftsabbruch zu legalisieren, verfassungsrechtlich ausgeschlossen. Was bedeutet das totale Abtreibungsverbot für Frauen und Mädchen in Honduras?
Honduras ist eines der ärmsten Länder der Welt, sieben von zehn Personen leben in Armut. Die sowieso schon prekären Bedingungen haben sich 2020 nochmals dramatisch verschlechtert – bedingt durch Covid-19, zwei große Wirbelstürme und Machthabende, ­denen demokratische und soziale Werte nichts gelten. Unter solchen Bedingungen Frauen und Mädchen zu Schwangerschaft und Mutterschaft zu zwingen, gleicht Folter. Ein Schwangerschaftsabbruch ist selbst dann ausgeschlossen, wenn das Leben der Mutter in Gefahr oder der Fötus nicht überlebensfähig ist. Ebenso wenn eine Vergewaltigung Ursache der Schwangerschaft ist. Statistisch wird alle drei Stunden eine solche zur Anzeige gebracht – wobei davon auszugehen ist, dass nur jede sechste Vergewaltigung angezeigt wird und auf 95 Prozent der Anzeigen keine strafrechtliche Ermittlung folgt. Honduras ist das Land mit der höchsten Missbrauchsrate in Lateinamerika.

»Seit dem Putsch 2009 sind die Allianzen zwischen politischen und religiösen Führern enger geworden. Religiöse Dogmen werden in staatliche Gesetzgebung übertragen.«

Hat das bestehende Verbot Abtreibungen verhindert?
Nein, keinesfalls. Das für eine medikamentöse Abtreibung geläufige Mittel Misoprostol beispielsweise ist durchaus auf dem Schwarzmarkt erhältlich. ­Allerdings zu horrenden Preisen, so dass nur wenige Frauen tatsächlich ­Zugang dazu haben. Zudem kann die benötigte Dosis stark variieren und Frauen werden in der Regel nicht ärztlich begleitet. Feministische Initiativen haben eine Beratungshotline namens »Linea Segura HN« gegründet, die vor allem über Facebook bekannt gemacht wird. Dort erhalten Frauen genaue Informationen über eine korrekte Dosierung der von ihnen erworbenen Medikamente.

Was machen Frauen, die über keinerlei finanzielle Mittel verfügen?
Sexuelle Aufklärung in öffentlichen Schulen ist verboten. Auf dem Land ­haben Frauen und Mädchen kaum Zugang zu den sozialen Medien. Andere leben ähnlich isoliert im städtischen Raum, wo sie als Hausmädchen ihre Arbeitsstelle niemals verlassen. Vielen Frauen wird erst Monate nach der Empfängnis klar, dass sie schwanger sind. Vielfach können sie aus Angst und Scham mit niemandem reden, geschweige denn einen Abbruch vornehmen. Ihnen bleibt nur, die Schwangerschaft zu verstecken. Meistens bringen diese Frauen dann ihre Kinder völlig alleine in der Wildnis oder auf ­einer Toilette versteckt zur Welt. Andere greifen zu brutalen Maßnahmen, stürzen sich von Bäumen oder führen Objekte in ihre Vagina ein, um sich selbst zu verletzen und eine Fehlgeburt zu provozieren. Sie gehen nicht zum Arzt und können an einer Infektion oder an Blutverlust sterben. Das harsche Abtreibungsrecht in diesem Land treibt Frauen also bis in den Tod, statt ihnen die Möglichkeit zu geben, über ihren Körper und ihr Leben zu entscheiden.

Wir sprechen ja nicht nur von Frauen, sondern auch von jungen Mädchen und Kindern …
Honduras ist das Land mit den meisten Schwangerschaften von Minderjährigen in Lateinamerika. Etwa 20 000 Jugendliche bringen jedes Jahr Kinder auf die Welt. Schätzungsweise 900 von ihnen sind selbst noch Kinder, gerade einmal zehn bis 14 Jahre alt. Diese Schwangerschaften resultieren auch nach honduranischem Recht aus ­sexuellem Missbrauch.

Am 21. Januar wurde das Abtreibungsverbot in die Verfassung aufgenommen.
Die Verfassungsänderung ist mit geplanter Eile über die Bühne gegangen. Das war eine politische Farce. Hätte es eine längere öffentliche und parlamentarische Debatte gegeben, wären all diese Fakten auf den Tisch gekommen und Mehrheitsverhältnisse hätten sich ändern können. Doch es gab keine Diskussion über Schwangerschaftsabbrüche als Thema öffentlicher Gesundheitspolitik und reproduktiver Rechte, wie es von feministischen Gruppen immer wieder angeregt wird. Es gab nur eine Verteufelung von Abtreibungen auf Grundlage eines streng religiösen Wertekanons.

Wie ist das zu verstehen?
Die Nationale Partei, die durch den Staatsstreich vom 28. Juni 2009 an die Macht gekommen ist, hat Angst vor ­politischem Wandel und vor einer ­Debatte über zivile und soziale Rechte. Außerdem sind seit dem Putsch die ­Allianzen zwischen politischen und religiösen Führern enger geworden. Die evangelikalen Sekten haben eine Vormachtstellung im Land, aber auch Opus Dei ist präsent. Religiöse Dogmen werden in staatliche Gesetzgebung übertragen. Die am 10. Januar vorgestellte Reform wurde zwar Vertretern und Vertreterinnen von über 40 konservativen Organisationen in einem Luxushotel vorgestellt, aber im Kongress wurde sie nicht ausreichend diskutiert und auch bei der Abstimmung am 21. Januar wurde nicht die vor­geschriebene Prozedur eingehalten. Gleichzeitig wurde auch die gleichgeschlechtliche Ehe verfassungsrechtlich verboten. Das Datum war mit Bedacht gewählt – vier Tage vor dem Ende der Legislaturperiode. Denn über eine Verfassungsänderung muss in einer Legislaturperiode abgestimmt werden, um sie dann in der nächsten zu verankern. Das war ein abgekartetes Spiel. So eine Effizienz kann man sonst lange suchen. Zu Beginn der Pandemie hat das Land zwei mobile Krankenhäuser aus dem Ausland erhalten. Die sind bis heute nicht aufgebaut und in Betrieb.

Besteht die Gefahr, dass andere ­Regierungen in Lateinamerika dieses Modell kopieren?
Der Kongressabgeordnete Mario Pérez hat gesagt, es gehe bei diesem »Schutzschild gegen Abtreibung« darum, eine Antwort auf die »grüne Welle« zu finden, also auf die Legalisierungen von Schwangerschaftsabbrüchen in Lateinamerika – zuletzt in Argentinien. El Salvador und Nicaragua haben ähnliche Gesetze wie Honduras und ebenso autoritäre Regierungen. Das ist gefährlich. Wenn es keinen Respekt vor Demokratie und öffentlicher Debatte gibt, ist alles möglich.

Welche Möglichkeiten gibt es, die Verfassungsänderung rückgängig zu machen?
Es bräuchte eine Dreiviertelmehrheit des Kongresses, das ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist sehr schwierig, verlorene Rechte wieder zu erkämpfen. Deshalb ist es um so wichtiger, die bestehenden zu verteidigen. Die Opposition tritt weiterhin für eine neue Verfassung ein. Der Putsch fand ja statt, um eine solche zu verhindern. Aber selbst wenn in Zukunft eine Verfassunggebende Versammlung eine solche gestalten kann, wurde diese nun im Vorhinein in ihren Möglichkeiten beschnitten.

Die 2014 durch Wahlbetrug an die Macht gekommene Regierung von Juan Orlando Hernández wurde bereits 2015 kritisiert, weil dieser den Haushalt des öffentlichen Gesundheitssystems auf Privatkonten umgeleitet hatte. 2019 wurde er von Kronzeugen in US-Gerichtsprozessen beschuldigt, Gelder von Drogen­bossen wie Joaquín »El Chapo« Guzmán erhalten zu haben.
Es gibt keinen bekannteren Hashtag in Honduras als #fueraJOH (»Raus, Juan Orlando Hernández«). Der Bruder des Präsidenten, seines Zeichens Abgeordneter und Leiter der Wahlkampagne seines Bruders, hat im Namen der Regierung Hernández’ eine Million US-Dollar von Joaquín Guzmán erhalten, um den freien Transit von Drogen durch Honduras zu gewährleisten. Wir sprechen hier nicht von der Übergabe eines Geldkoffers, wir sprechen von organisierter Kriminalität im ganz großen Stil. Das hat nach dem Skandal im Gesundheitssektor erneut wie eine Bombe eingeschlagen. Hinzu kommt dann noch die Misswirtschaft der Regierung während Pandemie und Naturkatastrophen, die zu einem erneuten Anstieg von Gewalt und Elend geführt haben.

Wie hat sich unter diesen Bedingungen die Situation von Frauen und Mädchen im Lockdown gestaltet?
Ich habe noch nie so viele Frauen und Kinder auf der Straße betteln sehen wie im vergangenen Jahr. Viele alleinerziehende Mütter hatten keine Möglichkeit, Einkommen zu erwirtschaften, um wenigstens Grundnahrungsmittel zu kaufen. Darüber hinaus pflegen viele Frauen kranke und alte Familienan­gehörige. Häusliche Gewalt hat im Lockdown enorm zugenommen, dennoch ist sie kein Thema im Land. Polizeibeamte reagieren verärgert über die nicht abreißenden Notrufe deswegen. Frauen sind nicht nur ökonomisch vollkommen abhängig von ihren Partnern geworden, sie hatten auch keine Fluchtmöglichkeit mehr. Während des Lockdowns in anderen Haushalten unter­zukommen, war unmöglich. Chancenungleichheit und Gewalt haben im vergangenen Jahr noch mehr Frauen und Mädchen in Flucht und Migration getrieben. Sie sehen einfach keine Möglichkeit, in diesem Land zu überleben. Die Angst vor dem Virus tritt ­zurück angesichts der Angst zu verhungern.