In Hessen steht das Gelände einer nationalsozialistischen Euthanasieanstalt zum Verkauf

Tatort mit Freizeitpotential

Das Gelände der ehemaligen »Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster« war ein Tatort des nationalsozialistischen »Euthanasie«-Programms und steht derzeit zum Verkauf. Erst nach öffentlichem Protest bekundete der bisherige Klinikbetreiber, die »besondere Geschichte des Standortes bei der Zukunftsentwicklung« einzubeziehen.

Dass ein Krankenhaus seine Einrichtungen »verlagern« möchte, sorgt normalerweise für wenig Aufregung. Anders im Fall der Vitos Weil-Lahn gGmbH: Seit diese im Herbst vergangenen Jahres ankündigte, ihre Kliniken in Weilmünster (Hessen) aufzugeben und sie mit denen des 14 Kilometer entfernten Kreiskrankenhauses in Weilburg zusammenzulegen, gibt es dagegen öffentlichen Protest. Denn auf dem zum Verkauf stehenden Gelände befand sich die ehemalige »Heil- und Pflegeanstalt Weilmünster«, die der Bezirksverband Nassau, ein bis 1968 bestehender Regierungsbezirk Hessens, betrieb. Zu dem etwa zehn Hektar großen Areal gehören 20 Gebäude. Derzeit erinnern eine Ausstellung in einem der Häuser und Gedenksteine an die dunkle Geschichte des Ortes.

Bereits seit 1897 als eine »Provinzial­irrenanstalt« genutzt, wurden die Einrichtungen ab 1933 als Landesheilanstalt geführt. Als die Verantwortlichen die Lebensbedingungen der Patientinnen und Patienten bis Ende der dreißiger Jahre durch Überbelegung verschlechterten, galt dem Anstaltsdezernenten des in Wiesbaden ansässigen Bezirksverbands Nassau, Fritz Bernotat, Weilmünster als ein Muster der Sparanstrengungen im nationalsozialistischen Anstaltswesen. Bernotat, der auch SS-Standartenführer war, besprach sich Ende 1940 in Anwesenheit eines hochrangigen NS-Funktionärs mit seinem Schwager, dem Maschinenmeister der Landesheilanstalt Weilmünster, und beauftragte ihn mit der Installation einer Gaskammer in der nahegelegenen Landesheilanstalt Hadamar. In der Tötungsanstalt ermordeten die Nazis zwischen Januar und August 1941 etwa 10 000 behinderte und psychisch erkrankte Menschen im Rahmen der sogenannten Aktion T4, weitere etwa 4 500 Menschen ermordeten sie zwischen August 1942 bis zum Kriegsende in anderen Zusammenhängen der nationalsozialistischen »Euthanasie«.

Die Landesheilanstalt Weilmünster wurde ab 1941 zur größten der neun sogenannten Zwischenanstalten umgebaut. In diesen sammelte das Personal Patienten aus verschiedenen Anstalten, um sie anschließend nach Hadamar zu bringen und dort zu ermorden. Zuvor waren bereits etwa 800 der anstaltseigenen Patienten nach Hadamar gebracht worden. Aber auch die Sterberate in der Landesheilanstalt Weilmünster war stark erhöht. Nach dem abrupten Ende der Gasmorde in Hadamar, einer Reaktion des Regimes auf die Proteste des katholischen Bistums in Limburg, konnten viele Patienten aus den Zwischenanstaltstransporten nicht mehr weiter verlegt werden. Nach der Einstellung der ersten Phase der »Aktion T4« im August 1941 wurden sie in der Landesheilanstalt Weilmünster getötet: durch Überdosierung von Medikamenten, tödliche Injektionen und Nahrungsentzug. Bis zum Kriegsende stieg die Sterberate in der gesamten Anstalt immer weiter, so dass in der Zeit des Nationalsozialismus etwa jeder zweite Patient seinen Aufenthalt in Weilmünster nicht überlebte.

Der Landeswohlfahrtsverband Hessen, der 1953 die Rechtsnachfolge des Bezirksverbands Nassau in sozialen Belangen antrat, übernahm zahlreiche Anstalten, die Tatorte der nationalsozialistischen »Euthanasie« gewesen waren. Seit der Umwandlung in die Vitos-Holding – der Landeswohlfahrtsverband ist Alleingesellschafter – zeichnet die Vitos Weil-Lahn gGmbH für die Einrichtung in Weilmünster verantwortlich.

Eine Steuerungsgruppe unter der gemeinsamen Leitung des Bürgermeisters von Weilmünster, Mario Koschel (parteilos), des Geschäftsführers des Vitos-Konzerns, Reinhard Belling, und des Geschäftsführers der Vitos Weil-Lahn gGmbH, Martin Engelhardt, will verschiedene Interessenvertreter ­einbeziehen und Vorschläge für die Nachnutzung des Areals erarbeiten. Der zu erzielende Kaufpreis sei hierbei nicht »das alleinige Kriterium für die Vergabe«, schrieb die Vitos Weil-Lahn gGmbH in einer Pressemitteilung nach dem ersten Treffen der Gruppe. Im Dezember unterbreitete Bürgermeister Koschel erste Vorschläge von einer Arbeitsgruppe der Gemeinde: Neben Gesundheitskliniken, Eigentumswohnungen und einem Gründerzentrum könne das »Freizeitpotential« ausgebaut und ein Teil des Areals »touristisch« mit »Übernachtungsmöglichkeiten, Hotellerie und Event-Locations« erschlossen werden. »Bei der neuen Nutzung wäre es wünschenswert, dass der offene parkähnliche Charakter des Geländes erhalten bleibt«, sagte Koschel. Die besondere Geschichte des Ortes wurde bis dahin an keiner Stelle erwähnt.

Wenige Tage vor dem internationalen Holocaust-Gedenktag am 27. Januar veröffentlichten Gedenkinitiativen wie der Verein »Gegen Vergessen – Für Demokratie« einen Aufruf, in der sie die Verantwortlichen aufforderten, »von diesen Planungen Abstand zu nehmen« und »das schwere historische Erbe als Tatort von NS-Massenverbrechen zu berücksichtigen«. Die Vitos Weil-Lahn GmbH schrieb daraufhin am 27. Januar in einer Pressemitteilung, ihr sei »die Verantwortung für das Andenken der hier im Nationalsozialismus ermordeten Menschen ein wichtiges Anliegen«. Sie kündigte an, die »besondere Geschichte des Standortes bei der Zukunftsentwicklung« einzubeziehen, dafür sei sie bereits im Gespräch mit der Gedenkstätte Hadamar. Auf Nachfrage der Jungle World sagte die Pressesprecherin der Vitos Weil-Lahn GmbH, dass man seit Mitte Januar im Gespräch mit der Gedenkstätte Hadamar sei.

Mit dem Aufruf verbanden die unterzeichnenden Initiativen die »Hoffnung«, dass »die bislang unzureichend aufgearbeitete Geschichte« von Weilmünster als »Ort von NS-Massenverbrechen« auf ein »neues Fundament« gestellt werde. Tatsächlich ist dieser ehemalige Tatort in Hessen, der ein Zentrum der nationalsozialistischen »Euthanasie« war, wenig erforscht und kaum bekannt: Lediglich der 40seitige Aufsatz »Die Landesheilanstalt Weilmünster im Nationalsozialismus« von Peter Sandner in einem Sammelband von 1997 dient Interessierten als zentrale geschichtswissenschaftliche Quelle.

Der Text des 1991 schräg in den ­Boden gesetzten Gedenksteins vernebelt eher die konkrete Täterschaft ­nationalsozialistischer Funktionäre und des Klinikpersonals: Seit 1937 hätten sich »die Lebensbedingungen der Kranken durch staatlich verordnete Sparmaßnahmen« verschlechtert, was »ab 1940 zu einem Massensterben« geführt habe. 1941 sei die Anstalt »als Durchgangsanstalt missbraucht« worden.