Hinterbliebene gedenken und fordern Konsequenzen

Konsequenzen erkämpfen

Ein Jahr nach dem Anschlag in Hanau erheben Angehörige und Überlebende schwere Vorwürfe.

Die Überlebenden und die Angehörigen der Opfer des rassistischen Anschlags von Hanau lässt die Frage nicht los, ob ihre Freunde, Kinder, Geschwister und Eltern noch leben könnten, wenn die Behörden ihre Arbeit besser gemacht hätten. Bei einer Online-Gedenkfeier für die Opfer, die die »Initiative 19. Februar Hanau« zusammen mit Überlebenden und Angehörigen veranstaltete, trugen diese die wichtigsten Fragen zum Tathintergrund und zum Tatablauf zusammen, die ihrer Meinung nach immer noch offen sind. Die Veranstaltung wurde am Sonntag online gestellt und ist weiterhin auf Youtube zu ­sehen.

Die Gedenkfeier im Sommer, ein halbes Jahr nach dem Anschlag, hatte wegen der Covid-19-Pandemie strenge Auflagen erhalten, während anderswo in Deutschland gleichzeitig Demonstrationen von Coronaleugnern nahezu uneingeschränkt stattfinden konnten. Bei der Veranstaltung am Sonntag war der Tenor der Beteiligten der gleiche wie bereits im Sommer. Stellvertretend formulierte Newroz Duman von der »Initiative 19. Februar Hanau«, mit den »Anklagen und öffentlichem Druck fortzufahren« sei »unser einziger Weg«, »um die Hanauer Morde zu einem wirklichen Einschnitt zu machen und damit eine Zäsur von unten zu erzwingen«.

Damit reagierten die Trauernden auch auf den Begriff von einer Zäsur oder einem Einschnitt, den Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Rede zum Jahrestag des Anschlags ebenfalls benutzt hatte. Piter Minnemann, ein Überlebender des Anschlags, wies darauf hin, dass »das Hanauer Attentat ­bereits in Vorbereitung« gewesen sei, als nach dem Anschlag in Halle im Oktober 2019 Politiker versprochen hätten, »alles Erdenkliche zu tun, um solche Taten zu verhindern«. Da es bisher keine Konsequenzen gegeben habe, sei es »mehr als wahrscheinlich, dass jetzt gerade irgendwo ein nächster rassistischer Anschlag vorbereitet wird«. Minnemann, der, wie er sagt, in der Tatnacht von der Polizei alleine und zu Fuß zur nächsten Polizeistation geschickt worden war, während der Täter noch auf der Flucht war, sagte: »Viele der Verhaltensweisen der Ermittlungsbehörden vor, während und nach der Tatnacht lassen sich nur durch strukturellen Rassismus erklären.« So habe es keine Gefährdetenansprachen gegeben, als der Vater des Täters nach Hause zurückgekehrt sei. Die in der Nähe lebenden Opferangehörigen und Überlebenden seien von der Polizei nicht über dessen potentielle Gefährlichkeit, seinen Rassismus und Verschwörungsglauben informiert worden. Stattdessen habe die Polizei die Hinterbliebenen als potentielle Gefährder angesprochen.

Auch die Missachtung von Warnzeichen vor dem Anschlag und in der Tatnacht führen die Angehörigen darauf zurück, dass die Behörden die Warnungen von als Ausländern wahrgenommenen Menschen nicht ernst genommen hätten. Abdukerim Saglam, ein Freund der Ermordeten Said Nesar Ha­shemi und Sedat Gürbüz, kritisierte, dass viele Chancen verpasst worden seien, den Täter zu stoppen. Hätten sich die zuständigen Behörden genug dafür interessiert, Verbindungen zwischen den verschiedenen Auffälligkeiten wie den Reisen des Täters zu Waffentrainings oder dem Umstand, dass dessen rassistisches Manifest mindestens sechs Tage vor dem Anschlag online war, zu ziehen, hätte etwas auffallen müssen. Dass diese Kette des behördlichen und polizeilichen Fehlverhaltens in einer Mischung aus Überforderung, Ignoranz und Rassismus dort zu keinerlei ernstzunehmenden Konsequenzen führt, erzürnte alle Teilnehmenden der Gedenkveranstaltung. Kim Selina Schröder, die den Anschlag überlebt hat, sprach von einer Verhöhnung der Opfer durch die anhaltende Unwilligkeit von Behörden und Politikern, mehr Fehler zuzugeben als von Angehörigen und Journalisten recherchiert und bewiesen worden seien. Emiş Gürbüz, die Mutter von Sedat Gürbüz, bezeichnete den 19. Februar 2020 als »schwarze Nacht« für die Angehörigen, für Deutschland werde diese Nacht »ein schwarzer Fleck bleiben, der niemals weggeht«.