Javier Pérez Royo, spanischer Verfassungsrechtler, im Gespräch über das Vorgehen gegen katalanische Separatisten

»Es kam zu Verletzungen der Grundrechte«

Das Europaparlament hat die Immunität von drei katalanischen Politikern aufgehoben, die von Spanien strafrechtlich verfolgt werden. Doch ob Katalonien Teil des spanischen Staats ist, könne nicht vor Gerichten geklärt werden, sagt Javier Pérez Royo, der an der Abfassung der Autonomiestatute von Andalusien und Katalonien mitgewirkt hat.
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Das Europaparlament hat drei seiner Abgeordneten, dem ehemaligen ­katalanischen Regionalpräsidenten Carles Puigdemont sowie den ehemaligen Kabinettsmitgliedern Antoni Comín und Clara Ponsatí, die Immunität aberkannt. In Spanien laufen Verfahren gegen sie wegen »Aufwiegelung«. Wird der Katalonien-Konflikt zu einem europäischen Problem?

Das Thema Katalonien beschäftigt die EU schon länger. Spanien hat bereits 2017 mehrere Europäische Haftbefehle gegen separatistische katalanische ­Politiker und Politikerinnen ausgestellt, als diese sich ins Ausland absetzten. Doch 2018 lehnte das Oberlandesgericht von Schleswig-Holstein den von Pablo Llarena, einem Richter am Obersten Gericht, gestellten Auslieferungsantrag gegen Puigdemont ab. Dem Vorwurf der »Rebellion« entspreche kein Straftatbestand in Deutschland, eine Auslieferung sei allenfalls denkbar wegen des Vorwurfs der Veruntreuung öffentlicher Mittel (zur Abhaltung des von Spanien als illegal erachteten Referendums über die Unabhängigkeit Kataloniens am 1. ktober 2017, Anm. . ed.). Belgische Gerichte entschieden, dass das Oberste Gericht Spaniens nicht die Befugnis habe, einen solchen Auslieferungsantrag zu stellen.

Gab es diesbezüglich noch andere wichtige Urteile?

Bedeutsam war auch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Fall von Oriol Junqueras (Vorsitzender der Partei Republikanische Linke Kata­loniens, Esquerra Republicana de Catalunya, ERC, seit 2017 in Spanien in Haft, Anm. . ed.), das Ende 2019 klärte, ab wann man als Abgeordneter des Europa­parlaments Immunität genießt: Dies sei der Fall, sobald man gewählt werde, und nicht erst, wenn man den Amtseid geschworen habe. Junqueras half die ihm zugesprochenen Immunität nicht, er war bereits in Spanien verurteilt worden und blieb in Haft.

Was man im Fall von Puigdemont, Comín und Ponsatí nicht außer Acht lassen darf, ist die bei der Abstimmung zutage getretene politische Spaltung. Im Normalfall sind solche Entscheidungen fast einstimmig, im Fall Puigdemonts votierten 400 Parlamentarier für den Entzug der Immunität, 248 stimmten dagegen und 45 enthielten sich. Bereits seine Wahl Belgiens als Exilort (im Herbst 2017, Anm. . ed.) zielte darauf ab, die Katalonien-Frage zu einem Thema für die EU zu machen.

Die Aufhebung der Immunität hat keine unmittelbaren Folgen für die drei Politiker, da ihnen in Belgien derzeit keine Auslieferung droht. Ist sie dennoch ein politischer Erfolg Spaniens?

Das werden wir erst sehen (lacht). Gut möglich, dass es nur ein Pyrrhussieg ist. Die Entscheidung des Europaparlaments kann vor dem EuGH angefochten werden (dies haben Puigdemont, Comín und Ponsatí angekündigt, Anm. d. ed.). Wir werden sehen, ob dieses ­Gericht der Rechtsauffassung Spaniens folgt oder ähnlich wie die belgische Justiz urteilt. Immerhin ­haben wir es mit der Entscheidung eines Parlaments zu tun, das die Frage nicht berücksichtigt, ob das Vorgehen des spanischen Obersten Gerichts die Grundrechte ­seiner Abgeordneten verletzt hat. De facto hat das Europäische Parlament die spanische Rechtsauffassung akzeptiert, aber bei der Behandlung des Antrags ging es in erster Linie um Formfragen. Vor dem EuGH ginge es um ­juristische Fragen, dort würde man natürlich alle Einwände der Verteidigung von Puigdemont, Comín und Ponsatí in Betracht ziehen, die besagen, dass die Grundrechte ihrer Mandanten verletzt wurden. Überdies steht noch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg über die Klage eines katalanischen Separatisten gegen das spanische Verfassungsgericht aus. In absehbarer Zeit werden die zwei höchsten ­juristischen Instanzen Europas über Spanien urteilen.

Spanien verließ sich im Fall Kataloniens von Anfang an auf juristische Maßnahmen. Ist die Justiz unparteiisch und frei von politischem Einfluss?

Ob Katalonien Teil des spanischen Staats ist oder nicht, ist eine rein politische Frage, die nicht vor den Gerichten entschieden werden kann. Der Versuch, auf juristischem Weg eine Lösung zu erzielen, ist zum Scheitern verurteilt. Man kommt keinen Schritt voran, sondern fällt in die Vergangenheit zurück.

Der Generalrat der rechtsprechenden Gewalt (CGPJ), der großen Einfluss auf die Besetzung der höchsten Gerichte hat, muss alle fünf Jahre neu besetzt werden, dies ist seit 2018 überfällig. Dass dies blockiert wird, ist ein Verstoß gegen Verfassungsgrundsätze – einer, der sich stets wiederholt, wenn die Rechtskonservativen vom Partido Popular (PP) die Macht verlieren. Das hat der PP beim Amtsantritt des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten José Luís Rodríguez Zapatero 2004 getan, und er tut es nun erneut, seit die linke Koalition von Pedro Sánchez regiert. Das hat beim PP System, weil die Rechtskonservativen kein Interesse daran haben, dass progressivere Richter die wichtigen Posten besetzen.

Glauben Sie, dass Puigdemont jemals in Spanien vor Gericht gestellt wird?

Das halte ich für höchst unwahrscheinlich. Aber man muss das Urteil des EuGH abwarten, danach wird die belgische Justiz das letzte Wort haben. ­Llarena kann meiner Ansicht nach von der belgischen Justiz keine Auslieferung fordern, solange die Rechtslage nicht geklärt ist.

Den separatistischen Kräften scheint die juristische Verfolgung nicht geschadet zu haben, sie und die Regionalisten scheinen zudem resistent gegen die Veränderungen im Parteiensystem. Woran liegt das Ihrer Ansicht nach?

Die Resistenz der Regionalisten und Separatisten erscheint in Katalonien und im Baskenland wie ein geologisches Phänomen – sie sind fast versteinert in der Parteienlandschaft. Dass diese Parteien die Unabhängigkeit fordern, ist relativ neu, das begann in Katalonien etwa 2010. Im Baskenland sind die Verhältnisse anders, aber in beiden Regionen haben die zentralstaatlichen Großparteien an Macht eingebüßt, vor allem der PP. Die Trennlinie ist hier klar: Unabhängigkeit oder Einheit mit Spanien. Die beiden Lager kämpfen mehr unter- als gegeneinander, doch die Unterstützung für Regionalismus und Separatismus bleibt stabil. Manche Organisationen verschwinden, wie das katalanische Bündnis Convergència i Unió, aber ihre Wählerschaft und Basis bleibt, wie bei der ERC und der CUP (Kandidatur der Volkseinheit), den radikalen linken Separatisten Kataloniens.

Andererseits gibt es keine klare Mehrheit für die staatliche Unabhängigkeit.

Separatisten und Unionisten haben in Katalonien jeweils knapp 50 Prozent der Wählerschaft hinter sich, daran ändert sich so gut wie nichts. Das hat Auswirkungen auf die gesamtstaatliche Politik, zumal Katalonien zu den bedeutendsten spanischen Regionen zählt. Solange Katalonien sich nicht demokratisch-autonom regieren kann, kann es auch Spanien nicht. Die separatistischen Parteien Kataloniens haben nicht die Kraft, die Unabhängigkeit zu erreichen, aber sie haben ausreichend Kraft dafür, Spanien schwer regierbar zu machen.

In Strafverfahren gegen Protagonisten der separatistischen Bewegung wurden Haftstrafen zwischen neun und 13 Jahren wegen »Aufwiegelung« verhängt. Wurden Ihrer Ansicht nach die Grundrechte kata­lanischer Politiker und Politikerinnen verletzt?

Es kam zu Verletzungen der Grundrechte, das steht für mich außer Frage. Spanien ist ein Rechtsstaat, und der funktioniert auch einigermaßen. Aber es gibt zwei Problemfelder. Eines ist die Verfolgung von Separatismus. In den entsprechenden Verfahren war schon die Wahl unparteiischer Richter ein Problem, das Recht auf eine zweite Instanz wurde den Angeklagten verwehrt, einige ihrer essentiellen Rechte wurden verletzt. Das gilt sowohl für die seit über drei Jahren Inhaftierten als auch für jene, die aus Spanien fliehen konnten. Das zweite Problem ist, dass Vorwürfe von Folter gegen Polizisten und Angehörige der Guardia Civil strafrechtlich nicht verfolgt werden. Das ist Nachlässigkeit oder eben Unwille seitens der spanischen Justiz. Das ist auch einer der Gründe, warum Spanien überaus häufig vom EGMR verurteilt wird. Zu erwähnen wären zudem Prozesse wegen Meinungsäußerungen, zum Beispiel gegen den Rapper Pablo Hasél, der wegen Majestätsbeleidigung ins Gefängnis musste. Ein solches Vorgehen ist eines demokratischen Rechtsstaats und ­EU-Mitglieds unwürdig.