Im Gespräch mit dem Historiker Jan Grabowski über die polnische ­Geschichtspolitik und das »Holocaust-Gesetz«

»Die Holocaust­forschung wird eingefroren«

Auf der Grundlage des »Holocaustgesetz« gehen regierungsnahe polnische Organisationen zivilrechtlich gegen gegen kritische Wissenschaftler vor. In diesem Konflikt geht es nicht zuletzt darum, wie viel Glaubwürdigkeit jüdischer Zeugenschaft zugemessen wird.

Sie und Ihre Kollegin Barbara Engelking sind Anfang Februar von ­einem polnischen Zivilgericht dazu verurteilt worden, sich für Ihre ­Arbeit als Historiker zu entschuldigen. Was genau hat man Ihnen ­beiden vorgeworfen?

Es ging um lediglich zwei Absätze in unserem zweibändigen Buch »Danach ist nur Nacht«. Dort zitiert meine ­Kollegin und Mitherausgeberin Barbara Engelking eine jüdische Holocaustüberlebende, die sagt, ein Mann namens Edward Malinowski habe eine Gruppe von 22 Juden verraten, die da­raufhin von den Deutschen ermordet worden seien. Die Klägerin, eine Nichte des bereits verstorbenen Malinowski, verwies auf ein Gerichtsverfahren aus dem Jahr 1950, in dem dessen Unschuld nachgewiesen worden sei. Engelking habe also auf heimtückische Weise Falschinformationen verbreitet. Ich wurde mitverantwortlich gemacht, weil ich Mitherausgeber des Buchs bin, in dem der betreffende Aufsatz erschien.

»Man kann das als die Dejudaisierung des Holocaust bezeichnen, die Juden werden also quasi aus dem Holocaust gestrichen.«

Inwiefern soll das rechtswidrig gewesen sein?

Oberflächlich betrachtet ging es um ein Verleumdungsverfahren, das von der schon erwähnten Nichte Malinowskis angestrengt worden war, mit dem Argument, sie wolle den Ruf ihres verstorbenen Onkels schützen. Interessanterweise argumentierte die klageführende Seite während des Verfahrens, das »Recht auf nationale Würde« der betreffenden Dame sei verletzt worden, ebenso ihr »Recht auf nationalen Stolz«. Die zitierten Formeln tauchen jedoch im polnischen Zivilrecht gar nicht auf, sie können also auch nicht dem Rechtsschutz unterliegen. Außerdem wurde uns vorgeworfen, wir hätten vorsätzlich Geschichtsfälschung betrieben, um den guten Ruf der polnischen Nation zu schädigen. Das Ganze ging also weit über den Schutz beziehungsweise die Verletzung individueller Persönlichkeitsrechte hinaus, und es wurde von einer Organisation namens Polnische Liga gegen Diffamierung (Fundacja Reduta Dobrego Imienia – Polska Liga Przeciw Znies­ławieniom, Anm. d. Red.) orchestriert. Deren Mitarbeiter sahen das Buch durch, verglichen die dortigen Quellenverweise mit den Originaldokumenten und suchten nach Ungenauigkeiten. Als sie dachten, sie hätten eine gefunden, begannen sie, nach Leuten zu suchen, die als Kläger oder Klägerin in Frage kämen.

Wie kommt diese Organisation dazu, so vorzugehen?

Als der polnische Staat vor drei Jahren die strafrechtlichen Bestimmungen des sogenannten Holocaustgesetzes aufhob, betonte Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, dass man sich die Einleitung zivilrechtlicher Gerichtsverfahren vorbehalte, für die man auf Nichtregierungsorganisationen zurück­greifen wolle. Genau das geschieht jetzt. Solche »Gongos« (government-­organized non-governmental organizations, Anm. d. Red.), wie etwa die Pol­nische Liga gegen Diffamierung, erhalten von der Regierung mit erhebliche finan­zielle Mittel, damit sie nach Wegen suchen, um Historiker oder an­dere ­unliebsame Wissenschaftler zu attackieren.

Offensichtlich lässt sich auf diese Weise einige Verwirrung stiften. In der deutschen Wochenzeitung Zeit stand zu lesen, in Ihrem Buch würden keine Belege für die umstrittenen Aussagen geliefert.

Das ist unwahr. In der betreffenden Passage des Buchs heißt es, die jüdische Zeugin Estera Drogicka behaupte, der Ortsvorsteher von Malinowo, ­Edward Malinowski, sei in den Verrat und die nachfolgende Ermordung von 22 Juden verwickelt gewesen. Barbara Engelking zitiert mit der jüdischen Zeugenaussage eine Quelle, die unter Holocaustforschern in solchen Fragen allgemein als die Glaubwürdigste gilt.

Auch das polnische Gericht verwies demgegenüber auf den Nachkriegsprozess von 1950, in dem Malinowskis Unschuld nachgewiesen worden sei.

Stellen Sie sich vor, unter welchen Bedingungen dieses Gerichtsverfahren in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren stattgefunden hat: Das ganze Dorf kam zusammen, Freunde, Verwandte. Man übte Druck auf alle aus, die es wagten, eine Person zu belasten – wie etwa den polnischen Ortsvorsteher, der beschuldigt wurde, an der Ermordung von Juden beteiligt gewesen zu sein. Dieses Muster kennen wir aus der Holocaustforschung zur Genüge, und in diesem Fall hat uns die jüdische Zeugin auch bestätigt, dass das damals so war.

Meistens läuft das nach einem ähnlichen Schema ab: Die ursprünglichen Zeugenaussagen zu Beginn der Ermittlungen sind relativ glaubwürdig; zum einen, weil die betreffenden Personen noch keine Nachteile befürchten, zum anderen, weil sie noch keine Gelegenheit hatten, ihre Aussagen untereinander abzustimmen. Wenn es dann zur ­Eröffnung des Gerichtsverfahrens kommt, kann man feststellen, dass alle ihre früheren Zeugenaussagen revidieren. So kommt es dann meist zum Freispruch. Die wenigen Juden, die zu diesem Zeitpunkt noch in der Gegend gelebt haben, wurden so lange terrorisiert, bis sie die abgesprochene Version der Geschichte bestätigt haben.

Zeugenaussagen, die gemacht wurden, nachdem die Zeugen Polen verlassen hatten beziehungsweise nicht mehr gesellschaftlich oder juristisch bedroht waren, sind etwas ganz anderes. (Das Interview, auf das sich Engelking an der inkriminierten Stelle ihres Aufsatzes stützt, hat Estera Drogicka der USC Shoah Foundation in den USA 1996 gegeben, Anm. d. Red.) Deswegen bedarf es der Fähigkeit zu historischer Quellenkritik, um diese Gerichtsakten und Zeugenaussagen zu interpretieren.

Wäre es nicht die Aufgabe eines Historikers, die dabei auftretenden Widersprüche aufzuzeigen?

Natürlich. Deswegen hat meine Kollegin Engelking ja auch aus diesen ­Gerichtsakten zitiert, um den Lesern einen Überblick zu geben. Wir haben diesen Zusammenhang zudem in der Einleitung des Buchs erläutert, das insgesamt 1 600 Seiten umfasst und von neun Autorinnen und Autoren geschrieben worden ist. Wir erklären, wie man sich diesen Quellen nähern muss und welche Probleme sich bei der Interpretation ergeben. Um es in meiner Funktion als Herausgeber der beiden Bände daher noch einmal klar zu sagen: Barbara Engelking hat wissenschaftlich meine volle Unterstützung.

Das Gericht sah das zumindest teilweise anders.

Mein Eindruck war, dass die Vorsitzende Richterin es allen recht machen wollte, und meine Anwälte teilen diese Sicht. Einerseits gestand sie der Klägerin den Anspruch auf eine Entschuldigung zu, anderseits lehnte sie alle mit der Klage verbundenen Forderungen nach finanzieller Entschädigung ab. Sie verwarf auch die Vorstellung, die »nationale Würde« einer Person sei rechtlich geschützt. Gleichwohl verurteilte sie uns dazu, der Klägerin eine öffent­liche Entschuldigung auszusprechen, aus der hervorzugehen habe, dass wir ihren Onkel aufgrund von unzureichenden Beweisen in ein schlechtes Licht gestellt hätten. Die schriftliche Begründung des Urteils steht noch aus.

»Ich bin Geschichtswissenschaftler und habe nicht die Mittel, mich dauerhaft gegen den polnischen Staat zu verteidigen.«

Das Schockierende an der bislang nur mündlich abgegebenen Erklärung ist, dass das Gericht damit Einfluss darauf genommen hat, wie Historiker zu ­arbeiten haben: Der Richterin zufolge dürfen sie keine Hypothese formulieren, wenn, wie in unserem Fall, historische Gerichtsakten den später zu Pro­tokoll genommenen Aussagen von Juden widersprechen. Hierbei geht es letztlich natürlich auch darum, wie viel Glaubwürdigkeit jüdischer Zeugenschaft zugestanden wird.

Wie meinen Sie das?

Im Zuge dieses Verfahrens ist die Glaubwürdigkeit der Zeugenaussagen von Juden wiederholt in Zweifel gezogen worden. So haben Juden während der deutschen Besatzung oft ihren Lebenslauf verändert, was sich ja von selbst versteht: Wenn du als Jude unter nationalsozialistischer Herrschaft überleben wolltest, konntest du nicht zugeben, wer du bist. Diesen Umstand hat das Gericht nun jedoch als verdächtig eingestuft. Aus der Perspektive der Holocaustforschung ist eine solche Haltung geradezu absurd.

Werden Sie das Urteil juristisch anfechten?

Sobald uns das Urteil schriftlich vorliegt, werden wir in Berufung gehen. Das Problem ist, dass der polnische Justizminister Zbigniew Ziobro noch am Tag der Urteilsverkündung per Twitter und im Radio seine Freude über das Urteil zum Ausdruck gebracht und uns als historische Lügner bezeichnet hat. Angesichts dessen, in welchem Maße die polnische Justiz bereits unter staatlichem Einfluss steht, wage ich keine Prognose über die Erfolgsaussichten eines solchen Berufungsverfahrens. Unsere Anwälte sprechen bereits davon, dass das Verfahren wohl vor dem Europäischen Gerichtshof in Straßburg enden wird.

Welche Konsequenzen hat all das für die Holocaustforschung in ­Polen?

Die Erforschung des Holocaust durch polnische Wissenschaftler, höchstwahrscheinlich aber auch durch internationale Forscher, wird dadurch ­geradezu eingefroren. Man muss sich vor Augen halten, dass die Hälfte der Menschen, die in der Shoah ermordet worden sind, polnische Juden waren. Der Holocaust hat zu einem großen Teil auf polnischem Territorium stattgefunden; wenn man über ihn schreibt, dann schreibt man also in der Regel auch über Polen. Angesichts einer ­solchen Rechtsprechung sind alle Wissenschaftler, die über die polnisch-­jüdischen Beziehungen und das Schicksal der polnischen Juden während des Holocaust schreiben, zu äußerster Vorsicht gezwungen. Ich bin bereits von Kollegen aus Deutschland und anderswo gefragt worden, ob sie ihre ­Forschung zu bestimmten Themen besser beenden sollten.

Ermutigen Sie polnische Nachwuchshistorikerinnen und -historiker angesichts dessen noch, in diesen Forschungsbereich einzusteigen?

Nein. Das habe ich ehrlich gesagt ohnehin noch nie getan. Der Druck, der in Polen auf kritische Geschichtswissenschaftler ausgeübt wird, war schon ­immer enorm; nun ist er geradezu unerträglich geworden. Die jüngere Generation von Wissenschaftlern bekommt derzeit vorgeführt, was selbst führenden Historikern wie mir und Barbara Engelking widerfährt. Stellen Sie sich nur einmal vor, wie man erst mit Historikern umspringen würde, die nicht über unser internationales Ansehen verfügen. Diese Entscheidung muss also jede und jeder selbst treffen.

Wie haben die polnischen Medien über den Konflikt und den Prozess berichtet?

In Polen gibt es ja keine öffentlich-rechtlichen Medien mehr, wie man das aus anderen Ländern kennt. Es handelt sich um Parteimedien, also willenlose Werkzeuge der regierenden nationalistischen Partei PiS (Prawo i Sprawied­liwość, Recht und Gerechtigkeit, Anm. d. Red.). Wieder und wieder wurde in den Abendnachrichten ein Foto von mir gezeigt und ich wurde als Lügner, Geschichtsfälscher und Verleumder der polnischen Nation bezeichnet, es war schrecklich. Allein im vergan­genen Jahr fand ich mich dreimal auf dem Titelblatt der größten rechts­gerichteten Wochenblätter, flankiert von Titelzeilen wie »Lügen ohne ­Strafe«. Das ist sehr belastend.

Können Sie unter solchen Bedingungen weiter arbeiten?

Das vermag ich nicht zu sagen. Gut vorstellbar, dass es, ermutigt durch das jüngste Gerichtsverfahren, zu weiteren Klagen kommt. Ich bin Geschichtswissenschaftler und habe nicht die Mittel, mich dauerhaft gegen den polnischen Staat zu verteidigen.

Welches politische Interesse verfolgt die polnische Regierung mit diesem Vorgehen?

Sie geht mit solchen Aktionen auf Stimmenfang. Ihre stramm nationalistische Stammwählerschaft hat sie ­ohnehin in der Tasche, das sind so 25 bis 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler. Aber sie brauchen mehr Stimmen, und solche Aktionen führen ­ihnen diese zu. Unglücklicherweise sind ein un­reflektierter Nationalismus und die Feindseligkeit gegen Leute, die öffentlich »schmutzige Wäsche waschen«, weit über die traditionelle Wählerschaft der Regierungspartei hinaus attraktiv.

Sie sprechen diesbezüglich von ­einer »Verzerrung des Holocaust«. Was meinen Sie damit?

Damit meine ich, dass man zwar die Faktizität des Holocaust nicht abstreitet, aber den Umstand, dass die eigene ­Nation in irgendeiner Form daran beteiligt war. Und wenn dann doch die Rede auf einzelne Beteiligte kommt, dann waren es angeblich bloß Kriminelle, die ohnehin am Rand der Gesellschaft standen und ohne Bezug zur Nation waren.

Ist dies ein Phänomen, das man nur in Polen findet?

Nein, jedoch ist die Haltung, lediglich Opfer gewesen zu sein, in Polen besonders ausgeprägt. Von den nationalistischen Regierungen der vergangenen Jahre wurde diese Einstellung intensiv gefördert. Sichtbar war sie aber bereits zuvor. Man kann das als die Dejudaisierung des Holocaust bezeichnen, die Juden werden also quasi aus dem Holocaust gestrichen. Heut­zutage antworten auf die Frage, wer unter der deutschen Besatzung mehr gelitten habe, die nichtjüdischen Polen oder die Juden, 71 Prozent der Polen ent­weder, beide seien gleichermaßen betroffen gewesen, oder gar, die Polen hätten mehr gelitten.

Wie hat sich der Antisemitismus in Polen in den vergangenen Jahren entwickelt?

Der Antisemitismus ist in der polnischen Gesellschaft schon immer ein Teil der Kultur gewesen. Manchmal war er deutlich sichtbar, manchmal etwas weniger. Heute ist er wieder salonfähig, und man kann in den staatlichen ­Medien Dinge sagen, die vor ein paar Jahren undenkbar waren. Die Regierungspartei PiS hat die Kräfte des Antisemitismus entfesselt und für ihre ­eigenen Zwecke benutzt.

 

Das kurz als Holocaustgesetz bezeichnete polnische »Gesetz über das Institut des Nationalen Gedenkens« sah in der Fassung von Februar 2018 eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren dafür vor, Polen »faktenwidrig« die Verantwortung oder Mitverantwortung für Verbrechen der deutschen Besatzer während des Zweiten Weltkriegs zuzuschreiben. Im Juni 2018 wurden die entsprechenden strafrechtlichen Bestimmungen wieder aus dem Gesetz entfernt. Der Präsident der Internationalen Vereinigung jüdischer Anwälte und Juristen (IJL), Meir Linzen, warnte daraufhin, weitere Schritte seien nötig, um zu verhindern, dass mit dem Gesetz die Meinungs- und Forschungsfreiheit nun auf zivilrechtlichem Wege eingeschränkt würden.

 

Jan Grabowski ist Professor für Geschichte an der Universität Ottawa. Gemeinsam mit der Soziologin Barbara Engelking hat der in Warschau geborene polnisch-kanadische Historiker 2018 die zweibändige Studie »Dalej jest noc: Losy Żydów w wybranych powiatach okupowanej Polski« (»Danach ist nur Nacht: Das Schicksal der Juden in ausgewählten Landkreisen des besetzten Polens«) herausgegeben. Darin sind neun Regionalstudien über das Schicksal jener polnischen Juden versammelt, die der deutschen Vernichtungspolitik zunächst entkommen waren und die, versteckt beziehungsweise mit einer falschen Identität versehen, in Polen zu überleben hofften. Auch Formen der Kollaboration sowie der Verrat, die Schikanierung und Ermordung von Juden durch nichtjüdische Polen werden in dem rund 1 600 Seiten umfassenden Werk angesprochen. Barbara Engelking ist Leiterin des Zentrums zur Erforschung des Holocaust an der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau, das sie 2003 unter Beteiligung von Grabowski gegründet hat.