Ein umstrittener Gutachten untersucht sexuellen Missbrauch in der katholischen Kirche

Im Vertuschen unfehlbar

Ein neues Gutachten beleuchtet den Umgang des Erzbistums Köln mit Fällen von Missbrauch durch Geistliche. Betroffene kritisieren die Untersuchung.

Das Gutachten bereitet Rainer Maria Woelki offenbar Bauchschmerzen. Zumindest wirkt der Kardinal und Erzbischof von Köln zurzeit vor Fernsehkameras immer leicht gequält. Vielleicht ist das aber auch einfach sein üblicher pastoraler Ausdruck. Das vorvergangene Woche veröffentlichte Gutachten der Kölner Anwaltskanzlei Gercke und Wollschläger enthält Hinweise auf 202 Beschuldigte und 314 Betroffene von sexueller Gewalt in den Jahren 1975 bis 2018 im Erzbistum Köln. Dieses hatte die Untersuchung selbst in Auftrag gegeben – von unabhängigen Nachforschungen kann also nur schwerlich die Rede sein. Die meisten Opfer waren demnach Jungen unter 14 Jahren, die Taten ereigneten sich häufig in den privaten Räumlichkeiten von Priestern, die Dunkelziffer dürfte sehr hoch liegen. Hochrangige Bistumsmitarbeiter fragten nicht weiter nach, unterließen es, Anzeige zu erstatten, oder ­ignorierten Hinweise. Als »systembedingte Ver­tuschung« wird dies im Gutachten bezeichnet. Kardinal Woelki habe jedoch keine Pflichtverletzungen begangen, so die Gutachter. Er will ­deshalb auch keine persönlichen Konsequenzen ziehen.

»Bis heute ist laut Kirchenrecht der Missbrauch eines Minderjährigen in erster Linie ein Verstoß gegen das Zölibat.«
Martin Schmitz, Missbrauchsopfer und Gründer einer Selbsthilfegruppe

Der Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller bezeichnete die Studie als »gut inszenierte Verteidigung« des Auftraggebers Woelki, sie verteile »Persilscheine für die Vertuscher«. ­Woelki hatte im März 2020 die Veröffentlichung eines anderen, ebenfalls von seinem Bistum in Auftrag gegebenen Gutachtens verhindert. Die Arbeit der Münchner Kanzlei Westpfahl, Spilker und Wastl weise »methodische Mängel« auf, zudem bestünden Rechtsfragen, was die Identifizierbarkeit von Tätern angehe, hieß es damals zur ­Begründung. Dann erging der Auftrag an Gercke und Wollschläger.

Das erste Gutachten kann seit vergangener Woche in Räumlichkeiten des Erzbistums Köln eingesehen werden. Dem Spiegel zufolge identifizierte die Münchner Kanzlei 233 Beschuldigte und 274 Betroffene. Die Gutachter erheben in dem Dokument keine Vorwürfe gegen Woelki. Die Mutmaßung, der Kardinal habe mit der Absage der Veröffentlichung im vergangenen Jahr eigenes Fehlverhalten vertuschen wollen, sieht Magazin dadurch entkräftet.

Der Missbrauch und seine Aufarbeitung sind allerdings nicht nur ein Pro­blem des Erzbistums Köln. Viele Opfer wagten es erst nach dem ersten großen Skandal um den Missbrauch in der katholischen Kirche im Jahre 2010, ihre Geschichte zu offenbaren. Das damalige Oberhaupt der katholischen Kirche, Papst Benedikt XVI., hatte verfügt, alle Missbrauchsfälle nach Rom zu melden. Viel geschah in den Folgejahren nicht.

Erst 2018 stellte die Deutsche Bischofskonferenz, der Zusammenschluss der römisch-katholischen Bischöfe ­aller Diözesen in Deutschland, eine Studie über den sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige in Deutschland vor. In den Kirchenakten aus den Jahren von 1946 bis 2014 fanden sich Hinweise auf 377 Betroffene sexueller Übergriffe sowie auf 170 Beschuldigte. Etwa 80 Prozent der Opfer waren, gezeigt am Beispiel des Bistums Münster, Jungen.

Die Kirchengemeinde Rhede gehört zum Bistum Münster. In der Kleinstadt im Münsterland gab es 1969 für Kinder wenig Freizeitmöglichkeiten. Martin Schmitz wuchs dort in einfachen Verhältnissen auf. Für Urlaub oder teure Hobbys reichte es nicht. So blieb dem Grundschüler nur, zu den Messdienern zu gehen. Die machten eine gute Jugendarbeit, boten Aktivitäten und Ferienlager an. Schmitz war begeistert und fühlte sich wohl.

Anfang 1970 kam ein neuer Kaplan in die Gemeinde. Der kleine, zierliche Mann war freundlich und mochte Musik. »Es begann ganz harmlos mit einer netten Umarmung nach der Messe. Dann saß ich auf einmal auf seinem Schoß und die Hand glitt in meine Hose«, schildert Schmitz die Geschehnisse im Gespräch mit der Jungle World. Die Übergriffe hätten sich bis hin zu mehrfachen schweren Vergewaltigungen gesteigert, unter anderem in einem Messdienerzeltlager. Dort sei nicht nur er betroffen gewesen. Einmal sei ein anderer Junge weinend und schreiend in das Zelt der Küchenfrauen gelaufen, der Kaplan hinterher, erzählt Schmitz, der mittlerweile 59 Jahre alt ist. Im Küchenzelt sei der Junge dann von dem Geistlichen geohrfeigt worden. »Die Küchenfrauen haben einfach weitergearbeitet. Es wurde nie über den Vorfall gesprochen. Obwohl es Mütter von anderen Messdienern waren, die dort den Küchendienst verrichteten.«

Über sein Leid konnte Schmitz mit niemandem reden. Im katholischen Münsterland war die Kirche damals unantastbar. »Meine Eltern hätten mir nicht geglaubt. Ein Kirchenmann tut so etwas nicht – so hätte die Antwort gelautet.« Schmitz behielt die Geschichte für sich. Jahrzehnte später erfuhr er, dass der Kaplan vor seinem Arbeitsantritt in Rhede zu einer Bewährungsstrafe wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt und mehr oder weniger in die Stadt strafversetzt worden war. Alle zwei Jahre wechselte der Priester seine ­Wirkungsstätte. Die genaue Anzahl der Opfer? Unbekannt.

Erst im Jahr 2012 wendete sich Schmitz mit seiner Geschichte an das Bistum. Der große Missbrauchsskandal zwei Jahre zuvor hatte auch ihn aufgerüttelt. Schließlich gründete er 2018 mit anderen die Selbsthilfe Rhede, die Gruppe wurde schnell größer. An die 30 Betroffene, Männer und Frauen, gibt es in der Stadt. Die Aufarbeitung des Missbrauchs ist für Schmitz noch lange nicht vorbei. »Die strikte Hierarchie der Kirche und der Gedanke der Unfehlbarkeit führen bis heute dazu, dass man sich mit den Ursachen des Missbrauchs nicht umfassend genug aus­einandersetzt«, sagt er. Auch das Zölibat hält er für problematisch. Er habe selbst einmal in einem Priesterseminar in Münster einen Vortrag zum Thema Übergriffe gehalten. Seine Aufforderung, die angehenden Priester sollten sexuelle Erfahrungen sammeln, bevor sie sich zum Zölibat verpflichteten, habe die Teilnehmer erröten lassen.

Die Kindheitserlebnisse von Antonius Kock klingen ähnlich. Er besuchte ab 1964 das Internat der Mariannhiller Missionare im nordrhein-westfälischen Reken. Da es damals zu wenig Schulbusverbindungen gab, gingen viele Jungen vom Dorf in kirchliche Internate, um ein Gymnasium besuchen zu können. Als Kock in der achten Klasse war, begannen die Übergriffe. Auch er saß bei einem Pater, dem er vertraute, zunächst auf dem Schoß. Die Missbrauchsgeschichte entwickelte sich dann ähnlich wie bei Schmitz. Auch Kock kommt aus einem überaus konservativen Elternhaus und konnte mit seinen Eltern nicht über die Übergriffe sprechen. Deshalb habe er geschwiegen, sagt der mittlerweile 67jährige im Gespräch mit der Jungle World. Nachdem Kock die Schule verlassen hatte, kam der Pater eines Sonntags auf dem elterlichen Hof vorbei. »Meine Eltern waren wahrscheinlich sehr stolz, dass ein Pater eigens bei ihrem Sohn vorbeischaut. Mir war jedoch sofort klar, warum er eigentlich gekommen war«, erzählt Kock.

Aus juristischer Sicht sind die Fälle von Schmitz und Kock verjährt. Doch der Umgang der Kirche mit ihrem Leid beschäftigt beide Männer immer noch. »In dem Kölner Gutachten kommen die Betroffenen laut dem Kirchenrechtler Schüller gerade einmal auf vier von 900 Seiten explizit vor«, bemängelt Kock. Beide Männer halten die Aufarbeitungsbemühungen der Kirche für allenfalls halbherzig. »Strukturell wurde nichts verändert. Während man mit dem Pfarrer im Ort noch gut reden kann, endet die offene Gesprächskultur spätestens auf Bistums­ebene. Dort sieht man sich immer noch von Gott eingesetzt«, bemängelt Schmitz. Er befürchtet, dass Missbrauch in diesen starren Strukturen auch heutzutage noch leicht möglich ist. »Bis heute ist laut Kirchenrecht der Missbrauch eines Minderjährigen in erster Linie ein Verstoß gegen das Zölibat«, sagt er. Woelki hat jedoch zumindest angekündigt, dies noch einmal genauer zu prüfen.

Während derzeit die katholische Kirche Schlagzeilen macht, weist die ­ökumenische Selbsthilfegruppe »Gottessuche – Glaube nach Gewalterfahrungen« darauf hin, dass sexuelle Übergriffe in allen christlichen Kirchen ­vorkommen. Und während sich die derzeitige Debatte vor allem um Übergriffe auf Jungen dreht, berichtet Barbara Haslbeck, die für den Verein tätig ist, davon, dass auch viele Frauen von solchem Missbrauch betroffen seien. »An uns wenden sich Frauen aus den beiden großen christlichen Kirchen, aber auch aus Freikirchen. Hier finden ebenso viele Übergriffe statt und die Frauen erzählen genauso, dass sie ­keinen Ort haben, um den Missbrauch ­anzusprechen«, sagte sie der Jungle World. Die Website des Vereins bietet deshalb Beratungen online und per ­E-Mail an.