Eine Erinnerung an Joey Ramone, den Rockstar, dem ein Leben in der Psychiatrie vorher­gesagt worden war

Wie aus Jeffrey Joey wurde

Vor 20 Jahren starb Jeffrey Hyman, besser bekannt als Joey Ramone. Die Geschichte der Ramones, deren simpel gespielter Punk Musikgeschichte schrieb, ist oft erzählt worden. Die ihres Frontmanns, dem ein Leben in einer psychiatrischen Anstalt vorhergesagt worden war, kommt dabei oft zu kurz.

Von Kindesbeinen an wurde Jeffrey Ross Hyman damit konfrontiert, anders zu sein. Er war viel größer als Gleichaltrige, eine Konsequenz des Marfan-Syndroms. Er war blass, brauchte schon früh eine Brille, war unsportlich, und wenn er rannte, schlugen seine Beine seitlich aus. Mitschüler auf der Suche nach Mobbing-Opfern fanden in ihm ein leichtes Ziel. »Joey musste Rockstar werden«, sagte Legs McNeil vom Punk Magazine, den in den siebziger Jahren eine enge Freundschaft mit Hyman verband, der sich damals nur noch Joey Ramone nannte. »Er fiel auf. Also musste er etwas damit anfangen, statt ständig von anderen angeschissen zu werden.«

Ein psychologischer Bericht bescheinigte Jeffrey Hyman geringes Selbstvertrauen, was damit zusammenhing, dass er sich als sowohl gefährlich als auch gefährdet wahrnahm. »Autorität betrachtet er mit Furcht, da er sein Leben als gefährdet wahrnimmt, wenn eine Autoritätsperson anwesend ist«, heißt es dort.

Kaum etwas schränkte den 1951 im New Yorker Stadtteil Queens geborenen Joey Ramone so sehr ein wie seine Zwangsstörungen. Er hörte Stimmen in seinem Kopf, die ihn zwangen, Tätigkeiten zu wiederholen. Er ­nahm mehrmals Dinge und stellte sie wieder zurück, ging Treppen immer wieder auf und ab. Als Teenager sah Joey Ramone keine Möglichkeit, mit seiner Krankheit umzugehen, und wurde suizidal. In seiner Hilflosigkeit wurde der eigentlich gutmütige Junge immer aggressiver. Nachdem er seine Mutter mit einem Messer bedroht hatte, brachte sie ihn zu einem Psychiater. Fortan ging er in Psychiatrien ein und aus.

Die Ramones schrieben gerne über psychische Probleme und psychiatrische Praktiken und kreierten so das Bild eines dystopischen Amerika: »Gimme Gimme Shock Treatment«, »I Wanna Be Sedated«, »Psycho Therapy«. Songs wie diese hatten ihren Ursprung zwar in der Vorliebe der Bandmitglieder für alte Horrorfilme und B-Movies – für Joey Ramone, und in geringerem Ausmaß auch Douglas Glenn Colvin (Dee Dee Ramone), beschrieben sie etwas, das sie selbst erlebt hatten.

Ein psychologischer Bericht bescheinigte Jeffrey Hyman geringes Selbstvertrauen, was damit zusammenhing, dass er sich als sowohl gefährlich als auch gefährdet wahrnahm. »Autorität betrachtet er mit Furcht, da er sein Leben als gefährdet wahrnimmt, wenn eine Autoritätsperson anwesend ist«, heißt es dort. »Er verfällt unbewussten Phantasien, die kein akzeptables Ventil finden, was zu weiterer Anspannung und explosivem Verhalten führt.« Letztlich rieten die Psychiater seiner Mutter, ihren Sohn in eine psychiatrische Klinik zu geben, weil sie nicht glaubten, dass er in der Gesellschaft würde funktionieren können.

Doch Hyman fand sein Ventil, nämlich die Musik: Erst war er fasziniert vom Rock ‚n‘ Roll, dann von den Beatles, den Kinks, den Rolling Stones und Girl-Groups wie den Ronettes. Als Anfang der siebziger Jahre Glam Rock aufkam, sprach ihn sofort an, wie hier Abweichung und Andersartigkeit zelebriert wurden. Sein Lieblingssong von David Bowie war »Rock ‚n‘ Roll Suicide«: »All the knives seem to lacerate your brain I’ve had my share, I’ll help you with the pain ou’re not alone.« Bowie bestärkte in ihm den Glauben, selbst Musiker werden zu können, auch wenn nichts unwahrscheinlicher wirkte, als dass es ein Junge wie er zum Rockstar bringen sollte.

Auch John Cummings und Douglas Colvin, die späteren Johnny und Dee Dee Ramone, hatten ein Faible für die Glitter-Szene. Die Mitglieder der Ramones fanden jedoch aufgrund ihrer Liebe zu dem für seine Zeit ungewöhnlich harten, exzessiven Garage Rock von Iggy Pops Band The Stooges zusammen. »Alle anderen waren ex­trem gegen die Stooges«, erinnerte sich Dee Dee. »Wenn man sie mochte, musste man zusammenhalten.«

Die Transformation von Jeffrey Hyman zu Joey Ramone hat Popgeschichte geschrieben, kommt im Mythos der Ramones, der sich zu oft um die Reduziertheit ihrer musikalischen Mittel dreht, aber zu kurz. »Joey nahm alles, was falsch an ihm war, und machte es zu etwas Schönem«, sagte Legs McNeil nach dessen Tod am 15. April 2001. »Und das ist doch die Philosophie von Punk: Man nimmt, was beschissen ist, zelebriert es und macht daraus etwas Gutes.«

Die Ramones verstanden sich als Band für alle Außenseiter und stahlen ihr Motto »Gabba gabba, we accept you, we accept you, one of us« aus Tod Brownings Filmklassiker »Freaks« von 1932. Und die Freaks fanden in Scharen zu ihnen.

Innerhalb der Band entstand eine Dynamik, der Joey Ramone sich stellen musste. Obwohl er der Frontmann war und neben dem Bassisten Dee Dee die meisten Songs schrieb, war er in den ersten Bandjahren das stillste Mitglied der Ramones. In Interviews sollte er schweigen oder vorher vereinbarte Sätze aufsagen. Erst mit der Zeit gewann er an Selbstvertrauen und forderte sein Mitbestimmungsrecht ein.

Daraus entstand ein Konflikt mit Bandchef Johnny, mit dem er immer wieder aneinandergeriet. Joeys Zwangshandlungen empfand Johnny als exzentrisches Verhalten, das der Band Zeit und Nerven kostete. Auch politisch hatten die beiden diametral entgegengesetzte Positionen: Joey war liberaler Demokrat, Johnny hielt zeit Lebens Ronald Reagan für den besten Präsidenten. Nachdem der ewige Romantiker Joey von seiner Freundin Linda verlassen worden war, weil sie und Johnny sich verliebt hatten, sprachen die beiden kaum noch ein Wort miteinander. Über die Trennung kam Joey nie hinweg.

1996 sangen Sleater-Kinney »I Wanna Be Your Joey Ramone«. In dem Lied versetzten sich Corin Tucker und Carrie Brownstein in die Rolle eines männlichen Rockstars, um dessen Wirkungsmacht für sich zu reklamieren. Joey Ramone als Metapher für das Rockstardasein zu wählen, war passend. »Für mich«, erläuterte Brownstein, »war Joey Ramone ein Performer, der sowohl Schüchternheit als auch Grandiosität verkör­perte. Er wirkte so hilflos und war doch larger than life. In dem Song geht es um diese Dualität, aber auch darum, in Joeys Schuhe zu schlüpfen, um unsere eigenen Ängste und Träume zu erkunden.«

Joey half anderen gern in diese Schuhe. Nachdem sich die Ramones 1996 aufgelöst hatten, verbrachte er die meiste Zeit damit, andere Musiker zu unterstützen. Er veranstaltete Konzerte und produzierte Bands, die ihm gefielen. In der zweiten Hälfte der Neunziger waren Joey Ramone und Jeffrey Hyman miteinander im Reinen. Wohin er auch ging, schlugen ihm Wertschätzung und Dankbarkeit entgegen, das genaue Gegenteil dessen, was er als Kind erfahren hatte.

Der Lymphdrüsenkrebs, an dem er 2001 sterben sollte, war schon Jahre zuvor diagnostiziert worden. Doch er war sich sicher, die Krankheit zu ­besiegen, wie er auch all die anderen Widrigkeiten seines Lebens gemeistert hatte. Seinen Optimismus nahm Joey Ramone mit ins Grab. Vier Tage vor seinem Tod weigerte er sich, künst­lich ernährt zu werden, weil er befürchtete, der Schlauch könnte seine Stimmbänder beschädigen. »I Got Knocked Down (But I’ll Get Up)« und »Stop Thinking About It« heißen Songs auf »Don’t Worry About Me«, dem Soloalbum, an dem er arbeitete, bevor er starb. Die einzige Single daraus war ein Cover von Louis Armstrongs »What a Wonderful World«.

Ein Vorläufer dieser optimistischen Songs lässt sich auf dem letzten Ramones-Album »¡Adios Amigos!« von 1995 finden. »Life’s a Gas« (in etwa: »Das Leben ist eine Freude«) heißt er, eine Hommage an T.Rex und damit ein Verweis auf Jeffrey Hymans Glam-Phase, die den Weg zu seiner Verwandlung in Joey Ramone geebnet hatte. Der Text lautet: »Life’s a gas  o don’t be sad ’cause I’ll be there  on’t be sad at all.« Traurig ist man trotzdem noch, auch 20 Jahre nach seinem Tod.