Der »Green New Deal« und die Modernisierung des Kapitalismus

Revitalisierung der Akkumulation

Der Klimawandel gefährdet das Profitregime. Für den Umstieg auf regenerative Energiequellen und kommunizierende Maschinen wird man die halbe Welt umgraben - das verschafft vor allem dem westlichen Kapital dringend benötigte Anlagemöglichkeiten.
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Der »Green New Deal« ist weder besonders grün noch hat er etwas mit dem »New Deal« des US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zu tun. Er ist vielmehr ein Teil einer gründlichen Modernisierung des Kapitalismus, der neue Felder der Mehrwertproduktion erschließt, altes Kapital durch neues, produkti­veres ersetzt (Big Data, E-Mobilität, G5, ­Digitalisierung, Künstliche Intelligenz) und die Schäden des Klimawandels durch den Ausstieg aus der Nutzung fossiler Brennstoffe eindämmen will.

Die Bourgeoisie behandle »die vorhandene Form eines Produktionsprozesses nie als definitiv, ihre technische Basis ist daher revolutionär«, schrieb Karl Marx in »Das Kapital«. Es ist wieder so weit. Nach Pferdegetrappel, Kohle und Dampf, nach der Epoche des Erdöls, der Autos, der Kunststoffe und der Atomkraft beginnt das Zeitalter der regenerativen Energiequellen und kommunizierenden Maschinen, der E-Mobilität und selbstfahrenden Autos, der Ausdehnung der Fabriksysteme auf Ländereien und Meere. Die neue technische Struktur entwertet die geronnene Arbeit von Generationen. Und es wird Generationen dauern, bis das Neue sich ganz durchgesetzt haben wird.

Die Bewältigung der Klima­schäden fällt mit der notwendigen Revitalisierung der Kapitalakkumu­lation in den Zentren zusammen.

Roosevelts »New Deal« von 1933 bis 1939 war etwas anderes. Er wollte den Kapitalismus nicht erneuern, sondern ihn nur so, wie er war, aus der Krise holen – mit einer Kreditversicherung zur Förderung des Wohneigentums der weißen Mittelschicht (Schwarze bekamen fast nichts) und »freiwilligem« Arbeitsdienst für junge Männer aus armen Familien, die Staudämme und Militäreinrichtungen bauen, Waldbrände bekämpfen und Nutzflächen erschließen mussten. Sie wurden in work camps kaserniert und von Armeeoffizieren beaufsichtigt. Jeder bekam mindestens 30 US-Dollar im Monat, von denen er 22 bis 25 bei seinen arbeitslosen Eltern abliefern musste. So ließ der Staat die Sozialhilfe von den Kindern der Armen bezahlen. Dieses dubiose Paket feiern linke Keynesianer und Grüne noch heute als erfolgreiches Programm zur Schaffung von Arbeitsplätzen.

Die große Modernisierung

Während Grüne den von der Wirtschaft ohnehin betriebenen Umbau als Bewahrung der Schöpfung lobpreisen, als hätte ihn Gott persönlich in Auftrag gegeben, erklärt Philipp Hildebrand, Vizevorsitzender des Investment-Konzerns Blackrock, den wahren Grund: Bei der Modernisierung gehe es »nicht um Moral«, sondern um einen »grundlegenden Strukturwandel (…) hin zur erhöhten Widerstandskraft unserer Wirtschaft«. Die Kapitalumschichtung finde »massiv statt«, weil Risiken des Klimawandels Investitionsrisiken seien; »dieser Aspekt ist fundamental. Das außer Acht zu lassen, kostet Rendite. So einfach ist das.« Europa habe im Hightech-Bereich den Zug verpasst, könne sich aber bei der »Nachhaltigkeit« an die Spitze setzen, »auch im Vergleich zu Amerika«.

Autos werden irgendwann per Batterie, Hybrid oder Wasserstoff angetrieben, die Künstliche Intelligenz (KI) wird Fabriken mit kommunizierenden Maschinen und Gabelstaplern ausstatten, die sich ihre Wege selbst suchen. Durch die Städte werden Lufttaxis und selbstfahrende E-Autos ohne Gestank und Motorengeräusche kurven. Wer im E-Auto sitzt, kann dem Wind und dem Gesang der Vögel lauschen. Mercedes bietet ­ein E-Auto mit »Widescreen-Cockpit«, intuitiver Sprachsteuerung und »Bauteilen aus nachwachsenden Rohstoffen: Hanf, Kenaf, Wolle, Holz« an.

Umweltschutz, Digitalisierung, KI und der Mensch sitzen einträchtig nebeneinander. Landschaften werden mit 5G-Türmen, Ladestationen, Wind-, Solar- und Batteriefabriken, Monokulturen und Stauseen für die Stromspeicherung in Fabrikräume verwandelt. Auf dem Meer schwimmen Energiefabriken und Siedlungen in Betonwannen, wie bereits heute in den Niederlanden. Aus Tankstellen werden Industrieanlagen mit Zapf- und Ladesäulen, Stationen zum Akkuwechsel, Landeplätzen für Lufttaxis, eigener Stromerzeugung und Erlebnisparks zum Zeitvertreib während der Ladezeit.

Ein Merkmal dieser technischen ­Revolution ist die Versöhnung des »grünen« Kapitals mit dem alten Betonkapital. Der Studie »Metals for a low-carbon society« von Olivier Vidal, Bruno Goffé und Nicholas Arndt zufolge müssten für die bis 2050 angepeilten 25 00 Terawattstunden aus Wind- und Solarenergie 3,2 Milliarden Tonnen Stahl (knapp 440 00 Eiffeltürme), 310 Millionen Tonnen Aluminium, 40 Millionen Tonnen Kupfer und unvorstellbare Mengen Beton verbaut werden. In einem Windrad mit mehr als 180 Metern Höhe wie in Brunsbüttel stecken ­
1 00 Kubikmeter Beton und 180 Tonnen Stahl. Für den »Green Deal« wird man die halbe Welt umgraben und in armen Ländern Gesundheit und Böden ruinieren. Der Kapitalismus wird reichen Staaten schwimmende Städte verkaufen und Millionen arme Menschen den Fluten überlassen.

Alte Firmen verenden oder wechseln ihr Programm, neue drängen auf den Markt. Im Sommer 2020 war der Konzern Tesla mit seiner Elektroautoproduktion an der Börse so viel wert wie die drei Ölgiganten Exxon/Mobil, Shell und BP zusammen. Im August 2020 flog Exxon/Mobil (2013 noch der wertvollste Konzern der Welt) aus dem Aktienindex Dow Jones. Er war nun zu klein für den Club der 30 größten Aktiengesellschaften der USA. BP prognostiziert, dass die Ölnachfrage bis 2050 um bis zu 80 Prozent sinken werde und der Verbrennungsmotor keine Zukunft mehr habe. Deshalb stellt Bernard Looney, der CEO von BP, die Firma »im langfristigen Interesse der Aktionäre« auf eine »grüne Strategie« um. BP will die Öl- und Gasproduktion in zehn Jahren um 40 Prozent senken und Investitionen in grüne Energien verzehnfachen.

Impulse und Krisenaspekte

Der Wandel hat mehrere Triebfedern. Zuerst sind da die vom Klimawandel verursachten Schäden. Stürme, Brände, Dürren, Fluten, der Anstieg des Meeresspiegels, der 136 an den Küsten gelegene Millionenstädte bedroht, und die aus tauenden Permafrostböden austretenden Treibhausgase gefährden das Profitregime. Arbeitszeit und Produktionsmittel werden durch Instandsetzungen, Reparaturen und Umsiedlungen absorbiert. Einer Studie der New York University zufolge wird der Klimawandel bereits ab 2025 etwa 1,45 Billionen Euro im Jahr kosten, sollten die Treib­hausgasemissionen nicht erheblich reduziert werden.

Arbeiter- und Emanzipations­bewe­gung haben dem System früher So­zialtransfers und demokratische Rechte abgerungen, heutzutage prei­sen klimabewegte Kids und die Grünen Steuererhöhungen als gute Tat.

Die Bewältigung der Klimaschäden fällt mit der notwendigen Revitalisierung der Kapitalakkumulation in den Zentren zusammen. Bisher haben Industrieländer auf die sinkende Profitabilität ihrer Kapitalberge mit Kapitalflucht reagiert. Nun wird den Zentren eine Radikalkur verpasst. Wichtige Säulen sind die Erneuerung der technischen Apparate bei gleichzeitiger Ausmerzung unproduktiver Techniken (der Ökonom Joseph Schumpeter sprach von »schöpferischer Zerstörung«, Marx von einer »Verwohlfeilerung der Elemente des konstanten Kapitals«) und die Nutzung strategischer Vorteile durch die grüne Energieproduktion im eigenen Land. Sie macht unabhängiger von Öl- und Gasimporten aus Russland, einem geopolitischen Gegenspieler des Westens, und unsicheren Weltregionen; sie spart zudem Kosten für Auslandstruppen und Kriege und wird es Firmen erleichtern, sich bei globalen Konflikten in die Obhut »ihrer« Nation zu begeben, wo sie sich auf Regierungen, Gewerkschaften und vaterländische Stimmungen verlassen können. Die Kapitalflucht hat Chinas Machtentfal­tung begünstigt, die Nutzung von Sonne, Wind und Wasser wird dem Machtzuwachs der alten Imperien zugutekommen.

Modernisierungsschübe erhöhen den internationalen Anpassungsdruck. Der technische Vorsprung steigert die Wettbewerbskraft und ist eine protektionistische Waffe. Wer vorne liegt, wird versuchen, die eigene Kapitalbildung durch Importsteuern auf »unsaubere« und nicht den Normen entsprechende Auslandswaren zu stärken und so einen Harmonisierungswettlauf in Gang zu setzen. Kaum hatte China bekanntgegeben, es werde »in naher Zukunft« Verbrennungsmotoren verbieten, kündigte der VW-Konzern, der 40 Prozent seiner Autos in China verkauft, die Produktion von E-Mobilen, Batteriezellen und Ladestationen (in Kooperation mit BP und Shell) sowie die Erprobung von Flugautos in China an.

Der »Green Deal« ist Teil der Krisenbewältigung und Urheber neuer Krisen. Das voluminösere Altkapital verliert über das physische Altern, den Verschleiß, hinaus an Wert, weil es in der Konkurrenz mit neuen Dingen schneller veraltet oder nicht mehr den Normen entspricht. Ist der Wertverfall des alten Kapitals größer als der Wertzuwachs des neuen, fällt die Wirtschaft in eine Rezession und die Finanzierung der Transformation, die noch länger aus Überschüssen der alten Ökonomie geleistet werden muss, ist gefährdet. Roland Busch, der CEO von Siemens, wies auf die Dialektik hin. Zwar steige mit jedem Jahr, »in dem wir nicht die Trendwende schaffen, der Druck auf den Kessel. Die notwendige Anpassung wird dann immer teurer und schmerzhafter.« Aber der Wirtschaftsraum müsse insgesamt wachsen; »wenn wir das beschädigen, haben wir ein Riesenproblem«.

Ein anderer Krisenfaktor ist die strukturelle Arbeitslosigkeit. Das E-Auto besteht aus weniger Teilen, die Fabrikation kommt zudem durch kommunizierende Maschinen mit weniger Personal aus. Funktionen werden von den Zulieferern in die Hauptwerke zurückgeholt, autonom fahrende Mietwagen werden die Zahl der Autos in Privatbesitz senken. Ferdinand Dudenhöffer, bis 2020 Professor für Automobilwirtschaft, vermutet, dass die Autobranche ihre Profitabilität bewusst »mit weniger Verkäufen und kleineren Fabriken« steigern will. Für den Kapitalismus ist Arbeitslosigkeit zunächst ein Vorteil, weil sie den Preis der Arbeitskraft drückt; zu einem Problem wird sie erst dann, wenn die Gewinne der technischen Revolution von den Kosten der durch sie verursachten Arbeitslosigkeit aufgezehrt werden.

Tabula rasa?

Die kapitalistische Dynamik ist spektakulär. Als Marx »Das Kapital« schrieb, arbeiteten in der damals führenden Industrienation England 1,7 Millionen Menschen in der Industrie. In dem heutzutage führenden China sind es knapp 350 Millionen. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno schrieben, die Vernichtungsfähigkeit des Menschen verspreche »so groß zu werden, dass – wenn diese Art sich einmal erschöpft hat – Tabula rasa gemacht ist. Entweder zerfleischt sie sich selbst, oder sie reißt die gesamte Fauna und Flora der Erde mit hinab.«

Ist der Mensch so schlimm oder nur der Kapitalismus? Wenn der Mensch so wäre, gäbe es keinen Ausweg, wohin­gegen der Kapitalismus beseitigt und durch ein System ersetzt werden könnte, in dem der Mensch mit sich und seinesgleichen solidarisch und liebevoll umgeht und den Austausch mit der übrigen Natur behutsam regelt. Dafür hätte das Bewusstsein aber Verhältnisse und Traditionen kritisch zu reflektieren und eine vom Kapitalismus befreite Gesellschaft anzustreben. Damit ist es nicht weit her.

Mit der Verschärfung der Klassengegensätze verflüchtigt sich offenbar das Klassenbewusstsein. Früher lösten technische Revolutionen Aufstände aus, heute loben Jugendliche in Straßenumzügen den neuen Akkumulationstyp als Beitrag zur Rettung des Planeten und fordern die Verteuerung der Mieten und Waren durch CO2-Sondersteuern auf den Verkehr und das Heizen. Während der Mensch in Ungnade fällt, werden Dinge mit Moral angereichert, es wächst das Ansehen von Windrädern und Dämmplatten. Ethik wird in CO2-Einheiten gemessen. Unternehmen dürfen Menschen ausbeuten, wie es ihnen beliebt, sofern sie nur die Emissionen senken. Rassismus und Antisemitismus entziehen sich der energetischen Gebäudesanierung. Wer heute von Autonomie spricht, meint das Auto. Neben den freundlich umherziehenden Kids gibt es den bösen Protest, der Verschwörungsformeln brabbelt.

Die Grünen setzen sich an die Spitze der Modernisierung und präsentieren sich als Kanzlerin-Verein. »Politik, die verändern will, muss sich an die ganze Gesellschaft wenden«, sagt ihre Bundesvorsitzende Annalena Baerbock. Wer ist in Sachsen die ganze Gesellschaft? Die Grünen sind für die »Renaissance der Industriearbeitsplätze« und danken der Wirtschaft, »die danach sich sehnt, dass wir diesen Aufschwung möglich machen«, für ihre Zuwendung, sagt ihr Bundesvorsitzender Robert Habeck.

Wir? Das ist Prahlerei. Die Grünen geben überwiegend das, was die Wirtschaft will, als ihre Idee aus, sie sind aber nützlich für die Ideologieprägung. Sie verkaufen in ihrem Wahlprogramm die Subventionierung der Wirtschaft als »epochale Aufgabe mit inspirierender Kraft«, auch wenn sie »nicht versprechen (können), dass nach Corona jedes unserer Projekte noch finanzierbar ist«, und die Vergesellschaftung der Umbaukosten als Rettung der Schöpfung, die für viele eine »große Herausforderung, ja Zumutung« sein wird. Deshalb wird der »Wohlstand ­
für alle« (Ludwig Erhard) durch den »klimagerechten Wohlstand«, der ­keiner mehr sein wird, ersetzt.

Die Linkspartei fällt, von Ausnahmen abgesehen, als Gegenpol aus, weil sie kommunistische Befreiungsvisionen durch den prokapitalistischen Keynesi­anismus ersetzt hat und nur harmlose Nörgeleien an der Globalisierung und der Politikform (Neoliberalismus) von sich gibt. Bestenfalls. Der Flügel um Sahra Wagenknecht hat sich dem Schutz des nationalen Proletariats vor »Migrantenströmen« verschrieben, hetzt also Proletarier aller Länder gegeneinander auf. Sollte die Linkspartei den »Green Deal« als Thema entdecken, wird sie ihre Standards anbieten: Das Thema ist im Parlament zu behandeln, Frau Merkel soll die Vertrauensfrage stellen, die Fertigstellung der Gaspipeline Nord Stream 2 ist unabdingbar für Wladimir Putins Oligarchenkapitalismus, alles Weitere regelt Keynes – dessen Idee, die Wirtschaft über die Verschuldung des Staats anzukurbeln, heute aber »böse« Neoliberale in einer Dimension verwirklichen, in der kein Keynesianer sich das getraut hat. Regierungen pumpen halt unabhängig von Theorien Geld in die Wirtschaft. Dazu bedarf es keiner Linken, nur der Zentralbanken.

Arbeiter- und Emanzipationsbewegung haben dem System früher Sozialtransfers und demokratische Rechte abgerungen, heutzutage preisen klima­bewegte Kids und die Grünen Steuererhöhungen als gute Tat und schwören auf den Markt, statt zu versuchen, dem Kapital die Produktion von Schadstoffen zu untersagen und ihm die Ausbeutung von Menschen unmöglich zu machen. Die Bösen beharren auf Kohle und Diesel, die Freundlichen wollen neue Technologien, beide interessiert nicht, dass der Kapitalismus sich so oder so sichtbar und erlebbar darüber reproduziert, dass er Menschen in seinen Betriebsdiktaturen ausbeutet, demütigt, entfremdet, in Angst vor dem Existenzverlust versetzt. Als Ausgleich für alle Entbehrungen gibt es Waren, ohne deren Absatz der Kapitalkreislauf nicht funktionieren würde, und so­genannte soziale Medien zum Pöbeln. Rechte Kreise empfehlen, sich an Migranten schadlos zu halten.

Der aktionistischen Gruppe Ex­tinction Rebellion geht es um den Aufstand gegen das »Aussterben der Menschheit durch den Klimawandel«. Wenn der Tod, der nicht aufs Klima zurückzuführen ist, sondern auf Völkermord, Pogrom, Krieg, Vertreibung, Hunger, Folter, Seuche, Männergewalt, Religion, Rassismus, Profit und Eroberung, nichts bedeutet, verwundert es nicht, dass der Mitgründer Roger Hallam den Holocaust als »fast normales Ereignis« abwertet und festlegt: »Auch jemand, der ein bisschen sexistisch oder rassistisch denkt, kann bei uns mitmachen.« Für manche ist die Attitüde des Planetenretters die Lizenz, sonst auf nichts mehr Rücksicht nehmen zu müssen.