Small Talk mit Julia Kopp von Rias Berlin über den Anstieg antisemitischer Vorfälle in Berlin

»Der Antisemitismus rückt näher an Jüdinnen und Juden heran«

Insgesamt 1004 antisemitische Vorfälle dokumentierte die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) Berlin im vergangenen Jahr alleine in der Bundeshauptstadt. Das ist ein Anstieg um über 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Die Jungle World sprach mit Julia Kopp von Rias Berlin über die Bedeutung dieser Zahlen.

Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie scheint sich Antisemitismus immer häufiger und offener zu zeigen. Bestätigen das die Zahlen?
Ja und nein, es gibt eine Zunahme antisemitischer Vorfälle von 2019 auf 2020. Wir beobachten hierbei aber eher antisemitische Dynamiken als einen konstanten Anstieg. Klar ist, dass die Covid-19-Pandemie Gelegenheiten für antisemitische Vorfälle geschaffen hat, indem sie etwa zum Anlass genommen wurde, sich antisemitisch zu äußern. Fast jeder fünfte Vorfall hatte einen Bezug zur Pandemie.

Welche Formen von Antisemitismus sind aufgetreten?
Die häufigste Form von Antisemitismus, die wir beobachtet haben, ist das »Othering«, also die Kennzeichnung von Jüdinnen und Juden als fremd oder nicht dazugehörig. Das macht 43 Prozent der Vorfälle aus. Daneben macht der Post-Shoah-Antisemitismus, der vor allem die Ablehnung der Erinnerung an die Shoah, die NS-Relativierung sowie die positive Bezugnahme auf nationalsozialistische Verbrechen umfasst, einen großen Teil aus. Israelbezogener Antisemitismus nimmt zwar anteilig ab, aber nicht in absoluten Zahlen.

Wo konnten Sie diesen Anstieg beobachten?
Wir haben nie zuvor so viele Versammlungen dokumentiert wie 2020. 42 der 58 von uns begleiteten Versammlungen richteten sich gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Fast jedes Mal kam es hier zu antisemitischen Äußerungen. Zudem haben wir mehr Vorfälle im Internet registriert, zum Beispiel bei sogenannten Zoom-Bombings und in den sozialen Medien. Aber auch abseits davon haben antisemitische Anfeindungen mit Bezug zur Pandemie Jüdinnen und Juden in Alltagssituationen und an Orten zufälliger Begegnungen getroffen.

In dem Bericht heißt es: »Die Pandemie hat eine besonders besorgniserregende Auswirkung«, weil der Antisemitismus »in sämtliche Lebensbereiche der Betroffenen vordringt«. War er da nicht vorher schon?
Definitiv, aber der Antisemitismus rückt näher an Jüdinnen und Juden heran. Die Anzahl der Vorfälle im öffentlichen Personennahverkehr etwa ist zurückgegangen, während gleichzeitig die der Vorfälle im Wohnumfeld gestiegen ist. Das heißt nicht nur, dass Antisemitismus alltäglicher für Jüdinnen und Juden geworden ist, sondern auch, dass er sie an ihren Rückzugsorten stärker trifft als zuvor. Wenn man dann noch den Bedeutungszuwachs dieses Rückzugsorts in der Pandemie bedenkt, wird die erhöhte Besorgnis nachvollziehbar.

Was gilt als antisemitischer Vorfall auf ­einer solchen Kundgebung?
Wir dokumentieren das, was explizit antisemitisch ist, nicht alles, was man unter dem Begriff des strukturellen Antisemitismus fassen würde. »Die Rothschilds«, »die Kabale« zum Beispiel würden wir aufnehmen, weil das deutliche Codes oder Chiffren für das Judentum sind. Einen Bezug auf Qanon dagegen nicht. Allerdings hat es eine Vielzahl an Versammlungen gegeben, das Geschehen war sehr unübersichtlich. Das bedeutet, dass die Dunkelziffer enorm hoch sein dürfte.

In dem Bericht kommen zwar mehr antisemitische Vorfälle, aber weniger Gewalttaten vor. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Unsere These ist, dass wir vorher oft Gewaltvorfälle registriert haben, die auf zufälligen Begegnungen beruhten. Es könnte sein, dass diese wegen der Ausgangsbeschränkungen weniger geworden sind.