Der britische EU-Austritt befeuert die Konflikte in Nordirland

Unhappy Birthday

Am 3. Mai feierte Nordirland Geburtstag. Vor 100 Jahren, am 3. Mai 1921, trat der Government of Ireland Act in Kraft, der Irland in Nord- und Südirland aufteilte. Aus dem südlichen Teil wurde 1922 im Zuge eines erfolgreichen Guerillakriegs der Freistaat Irland, der das Vereinigte Königreich verließ. Die sechs nordöstlichen Grafschaften blieben als Landesteil im Königreich. Sie werden von einer protestantischen Mehrheit dominiert, die katholische Minderheit wurde jahrzehntelang benachteiligt und diskriminiert.

Sowohl der britische Premierminister Boris Johnson als auch Königin Elisabeth II. gratulierten zu dem Jubiläum, doch die Feierlichkeiten wurden überschattet von den Auswirkungen des EU-Austritts auf die Region und den erneuten Spannungen zwischen Unionisten, die strikt zum Vereinigten Königreich halten, und irischen Nationalisten, die sich eher der Republik Irland verbunden fühlen.

Unter irischen Nationalisten werden Stimmen lauter, die eine Übergabe der nordirischen Gebiete an die Republik Irland fordern. Der ehemalige Vorsitzende der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin, Gerry Adams, erinnerte anlässlich des Jubiläums in einem Essay auf seinem Blog an die vom Staat geduldete und geförderte Benachteiligung der Katholiken in Nordirland und schrieb auf Twitter: »Time 4 Unity«. Im nordirischen Parlament hatten die irisch-republikanische Partei Sinn Féin und die Social Democratic and Labour Party (SDLP) die Vorbereitungen für die Feierlichkeiten boykottiert. Sinn Féin verhinderte auch die Errichtung eines Steins in der Form Nordirlands vor dem Parlamentsgebäude. Der irische Präsident Michael D. Higgins stimmte hingegen einen versöhnlicheren Ton an. In einem Interview mit der BBC rief er anlässlich des Jubiläums nicht zur Vereinigung Irlands auf, sondern forderte einen gemeinsamen Zukunftsentwurf gegen Gewalt und »falsche Unterscheidungen«.

Aber nicht nur unter irischen Nationalisten kam am 3. Mai keine feierliche Stimmung auf, auch viele Unionisten sind unzufrieden, denn die nordirische Wirtschaft leidet unter den Folgen des EU-Austritts. Die neuen Importbestimmungen für Waren aus Großbritannien haben den Handel stark getroffen. Die Einfuhr von Tier- und Pflanzenprodukten zum Beispiel ist deutlich komplizierter als früher, einige Produzenten aus Großbritannien verzichten deshalb auf Lieferungen nach Nordirland. Ein nordirischer Lebensmittelgroßhändler sagte bei einer Anhörung im britischen Unterhaus, die neuen Bestimmungen seien »wie Zwiebelschälen«: »Je mehr man schält, desto mehr muss man weinen.«

Die neuen Einfuhrbestimmungen sind Teil des Austrittsabkommens zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Um Grenzkontrollen zwischen Nordirland und der Republik Irland zu verhindern, einigten sich beide Seiten auf das sogenannte Nordirland-Protokoll. Grenzkontrollen finden demnach nicht auf der Insel, sondern an der Grenze zu Großbritannien in der Irischen See statt. Das gefällt allerdings vielen unionistisch gesinnten Nordiren nicht, die sich damit von Großbritannien abgehängt fühlen.

Die Lage in Nordirland ist so angespannt, dass es im April zu den schwersten Unruhen seit dem Karfreitagsabkommen kam, mit dem 1998 der lange Konflikt um Nordirlands Status beendet worden war. Infolge der derzeitigen Krise kündigte die Miniterpräsidentin Nordirlands und Vorsitzende der Democratic Unionist Party (DUP), Arlene Foster, am 28. April ihren Rücktritt von beiden Ämtern an. Sie kam einem Misstrauensvotum zuvor, für das DUP-Mitglieder bereits Unterschriften gesammelt hatten. Foster hatte die Einführung des Nordirland-Protokolls unterstützt. Aus der Sicht vieler DUP-Mitglieder hat sie damit eine faktische Trennung zwischen Großbritannien und Nordirland herbeigeführt. Dem konservativen Teil der Partei war Foster zudem zu sozialliberal. Im April hatte sie im nordirischen Parlament nicht mit ihm gegen ein Verbot von sogenannten Konversionstherapien gestimmt, die vorgeben, Homosexualität zu »heilen«.

Edwin Poots, ein lautstarker Kritiker des Nordirland-Protokolls und des gesamten Austrittsabkommens, wurde am 14. Mai zum neuen Vorsitzenden der DUP gewählt. Er setzte sich gegen den Abgeordneten im britischen Unterhaus, Sir Jeffrey Donaldson, durch, der als der modera­tere Kandidat galt. Poots kündigte an, unverzüglich Gespräche mit der britischen Regierung über das Nordirland-Protokoll aufzunehmen. Für das Amt des Ministerpräsidenten wolle er einen Parteikollegen nominieren.

Ob der Wechsel an der Spitze der DUP die derzeitigen Probleme lösen kann, ist fraglich. Der Vorsitzende der SDLP, Colum Eastwood, sagte der Nachrichtenagentur AP vor Poots’ Wahl, dass ein Führungswechsel in der DUP nichts an der brenzligen Situation in Nordirland ändern werde. »Weder die britische Regierung noch die EU werden ihre Position ändern«, vermutete er.

Doch einige wollen Johnson noch immer zum Einlenken bewegen. Ende April forderten der ehemalige Primas der anglikanischen Kirche von Irland, Robin Eames, sowie ehemalige Politiker und hochrangige Polizeikommandanten aus Nordirland ihn in einem Brief zu einer Intervention in der Nordirland-Frage auf. Sie schreiben: »Aufgrund unser langjährigen Erfahrung sind wir sehr besorgt, dass die Gewaltausbrüche in den Gegenden der Loyalisten eine Konsequenz der Politik sind, die in Stormont und Whitehall (Sitz der nordirischen beziehungs­weise der britischen Regierung, Anm. d. Red.) gemacht wird und die den Menschen in Nordirland nicht gerecht wird.« Niemand sei »ehrlich über die Folgen des Brexits« zu den Nordiren gewesen. Den Menschen seien Versprechungen gemacht worden, die nicht eingehalten worden seien. Die Bedingungen und Chancen in Bezug auf den Handel mit Großbritannien hätten sich verschlechtert.

Johnson scheint das Problem jedoch der EU zuschieben zu wollen. In einem Interview mit der BBC versprach er am 20. April, Schritte einzuleiten, um die »alberne Grenze« zwischen Großbritannien und Nordirland aufzuheben. Das Austrittsabkommen habe lediglich »leichte Kontrollen« an der Grenze vorgesehen. Wenn sich die EU jetzt aber dogmatisch bei der Einfuhr von »englischen Rosenbüschen oder englischer Wurst« nach Nordirland zeige, dann müsse er einschreiten.

Wie die Irish Times berichtete, zeigte sich die EU in den vergangenen Wochen offen, die derzeitigen Regeln zumindest so weit anzupassen, dass Tiere und Pflanzen leichter die Grenze passieren können. Damit soll zum Beispiel der Grenzübertritt von Blindenhunden erleichtert werden. Einem Sprecher der EU zufolge sei diese zwar bereit zu einer flexiblen Anwendung des Nordirland-Protokolls, mahnte aber gleichzeitig, dass einige der Forderungen der britischen Regierung diese »Flexibilität überstrapazieren« würden. Die EU hat klargemacht, dass es weiterhin Kontrollen geben wird. Eine komplette Abschaffung der Grenzkontrollen sei nur möglich, wenn sich Großbritannien an die Regeln des Binnenmarktes halte.

Die britische Regierung verlangt dennoch weitere Zugeständnisse von der EU. Nach Gesprächen mit nordirischen Unternehmern am 11. Mai forderte der britische Chefunterhändler David Frost die EU zu mehr Pragmatismus auf. Er deutete an, dass seine Regierung »alle Optionen« in Betracht ziehe, um Grenzkontrollen zu reduzieren. Frost und der Minister für Nordirland, Brandon Lewis, hatten sich am 10. Mai zu Gesprächen mit dem nordirischen Loyalist Community Council getroffen, zu dem auch paramilitärische unionistische Gruppen wie das Red Hand Commando gehören.

Das Nordirland-Protokoll hat aber nicht nur Kritiker: Der irische Ministerpräsident Micheál Martin sagte der BBC, dass es auch Produzenten und Händler in Nordirland gebe, die wirtschaftliche Vorteile in den neuen ­Regelungen sähen. Er warf den Unionisten vor, diese Stimmen zu unterdrücken. Nach Gesprächen mit Johnson am 14. Mai sagte Martin, er vertraue darauf, dass im Verhandlungsprozess zwischen Großbritannien und der EU eine Lösung für den Konflikt gefunden werden könne.

Der Wahlerfolg der Scottish National Party, die für die Unabhängigkeit Schottlands eintritt, bei den schottischen Regionalwahlen am 6. Mai gibt indes der irisch-republikanischen Bewegung neuen Aufschwung. Die Vorsitzende von Sinn Féin, Mary Lou McDonald, sagte nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses, dass »die britische Politik fundamentalen Änderungen« unterworfen sei und ihre Partei die kommenden Ereignisse in Schottland »sehr genau« verfolgen werde.

Ein Referendum in Nordirland über den Austritt aus dem Vereinigten Königreich hätte inzwischen größere Aussichten auf Erfolg als in der Vergangenheit. Einer Umfrage des Belfast Telegraph vom 3. Mai zufolge fühlen sich 51 Prozent der über 65jährigen Nordiren britisch, aber nur 17 Prozent der 18- bis 24jährigen. Als irisch sehen sich 23 Prozent der über 65jährigen und 35 Prozent der 18- bis 24jährigen. Rund ein Drittel der Befragten gab an, sich weder als britisch noch als irisch zu identifizieren, sondern als nordirisch. Sollte es zu einem Referendum über den Beitritt zur Republik Nordirland kommen, würde diese Gruppe die Wahl wohl entscheiden.