»Israelkritiker« aus Kultur und Wissenschaft üben kaum Kritik an antisemitischen Demonstrationen

Die Leisetreter

Wissenschaftler und Kulturschaffende, die sogenannte Israelkritik propagieren, haben kaum ein kritisches Wort über die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen in Deutschland verloren.

Seit 20 Jahren lässt sich in Deutschland regelmäßig beobachten, wie diejenigen, die in der Politik, an den Universitäten oder im Kulturbetrieb für mehr Freiräume für »Israelkritik« eintreten, stets dann von der Bildfläche verschwinden, wenn ihre Argumente, Theoreme und Überzeugungen Gefahr laufen, durch unmissverständlich antisemitische Gewalt widerlegt zu werden. Wie nach den Anschlägen vom 11. September 2001, nach dem Libanon-Krieg 2006 und nach den antisemitischen Aufmärschen 2014 ist auch nach den jüngsten Ausschreitungen auffällig, wie leise diejenigen werden, die in vermeintlich ruhigeren Zeiten mit besonderem Pathos Einspruch gegen den jüdischen Staat erheben.

Wird das, was ohnehin nicht zu leugnen ist, akut und offensichtlich, ziehen sie sich entweder zurück – wohl in der Hoffnung, das Problem aussitzen zu können – oder versuchen, die Angelegenheit in ihrem Sinne umzudefinieren. Dass der kürzlich auf Zeit Online veröffentlichte und stilistisch in persönlich-nachdenklicher Form gehaltene Antisemitismus-Essay des Journalisten Fabian Wolff in den vergangenen Wochen große Zustimmung erfuhr, dürfte mitunter daran liegen, dass das Wort »Islamismus« darin noch nicht einmal fällt.

Von den mehr als 1 500 Unterzeichnenden des offenen Briefs »Wir können nur ändern, was wir konfrontieren«, der im Dezember vorigen Jahres zur Unterstützung der »Initiative GG 5.3 Welt­offenheit« aufgesetzt worden war und Einspruch gegen die BDS-Resolution des Bundestags erhoben hatte, ist derzeit nur wenig In­teresse an einer Konfrontation antisemitischer Zustände zu vernehmen. Das postmigrantische Netzwerk »Neue deutsche Organisationen« wiederum ver­öffentlichte am 18.Mai eine Stellungnahme gegen Antisemitismus, die allerdings tatsächlich vor allem als Forderung zu verstehen ist, sich »antimuslimischem Rassismus« entgegenzustellen.

Währenddessen lassen islamistische und andere Demonstranten weder in Deutschland noch international Zweifel daran, wozu sie bereit wären, wenn ihnen staatliche Sicherheitsorgane oder private Schutzdienste nicht im Weg stünden. In Basel wurde eine einzelne Gegendemonstrantin am Rande einer antiisraelischen Kundgebung durch die Straßen gejagt, nachdem sie eine Israelfahne hochgehalten hatte. Aufnahmen aus London zeigen, wie dort über Lautsprecher aus Autos heraus zur Vergewaltigung jüdischer Mädchen aufgerufen wurde und ein durch die Straßen ziehender Mob herausschrie, auf der Jagd nach Juden zu sein: »Wir wollen Zionisten, wir wollen ihr Blut.« Aufzeichnungen aus den USA und Kanada haben festgehalten, wie dort Juden am helllichten Tag von einem Mob drangsaliert und verprügelt wurden.

Dass viele Wissenschaftler und Kulturschaffende in Deutschland zu den jüngsten antisemitischen Ausschreitungen schweigen, ist mitunter einem standesgemäßen Rassismus geschuldet. Dieser entspringt unmittelbar aus dem herkunftsdeutschen Bescheidwissen, dem zufolge nichtweiße Migranten immer Opfer sind, weswegen man ihnen stets irgendwie zur Seite springen müsse – und sei es nur symbolisch. Der als sogenannter Nahostexperte geltende Publizist Michael Lüders zum Beispiel sagte in einer Gesprächsrunde des Senders Phoenix, dass Palästinenser sich in Deutschland zwar durchaus friedlich politisch betätigen wollten, doch weil die BDS-Kampagne hierzulande als antisemitisch gelte und deshalb keine Möglichkeit böte, »der eigenen Stimme Gehör zu verleihen«, sei »Gewalt natürlich eine Option«.

Die Trierer Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Genderforschung, Andrea Geier, die sich auf Twitter als »Bademeisterin der Debattenkultur« und »Komplexitätsdienstleisterin« vermarktet und auf ihrer Universitätswebsite behauptet, mit Antisemitismusforschung befasst zu sein – zu dieser hat sie ihrer Publika­tionsliste zufolge in den vergangenen 20 Jahren nur wenige literaturwissenschaftliche Aufsätze beigetragen –, tweetete am Wochenende der Ausschreitungen zunächst Bilder von Enten und Schwänen, anschließend eilig Nachgereichtes zu Antisemitismus rechtsextremer Provenienz: erst die heile Welt, dann das, was als das eigentliche Problem ausgewiesen werden soll.

Vergleicht man den politischen, akademischen wie kulturbetrieblichen Einsatz, den viele in der Causa Achille Mbembe zeigten, die vergangenes Jahr zu einer Kontroverse weit über das Feuilleton hinaus geführt hatte, zeigt sich, welche Prioritäten in Deutschland gesetzt werden. Die Historikerin Ute Frevert sagte damals im Gespräch mit der ZDF-Sendung »Aspekte«, sie habe den Eindruck, die Kritik an Mbembe lenke vom eigentlichen Antisemitismus in Deutschland ab.

Das Gegenteil ist der Fall: Es ist der Bezug auf postkoloniale Theorie, der von antisemitischen Verhältnissen ablenken soll. Diese wird von vielen nicht etwa gelesen, um konkret auf die Be­seitigung von Armut und Gewalt außerhalb der westlichen Welt hinzuarbeiten, sondern um als vornehmes Therapeutikum von einer alten Last zu befreien und sich das schönzureden, was immer wieder das eigene Weltbild stört.

Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann bezog sich in ihren Ende vorigen Jahres in der Zeitschrift Merkur veröffentlichten, Mbembe zugeneigten Überlegungen auf einen Blogbeitrag der Soziologin Irit Dekel und der Anthropologin Esra Özyürek auf Zeit Online, die auf »viele Kooperationsprojekte zwischen deutsch-jüdischen und deutsch-muslimischen Gemeinden« hingewiesen hätten, etwa »Dialogforen, Bildungsprojekte und Gesprächskreise«. Wie zahlreich und wie effektiv diese sind, dürfte schon daran abzulesen sein, dass Assmann kein einziges davon beim Namen nannte.

Die unermüdlich geäußerte Forderung, Bildungsangebote müssten geschaffen werden, um der antisemitischen Enthemmung entgegenzuwirken, wird auch von der rassistischen Phantasie getragen, dass der Antisemitismus der Minderheiten auf deren niedrigeren Bildungsgrad zurückzuführen sei. So wird impliziert gefordert, bei diesen vermeintlich einfach gestrickten, im Grunde lediglich unwissenden Menschen Nachsicht walten zu lassen – sie wüssten es ja nicht besser.

Derweil beweist der in Deutschland überaus stark ausgeprägte akademische wie kulturbetriebliche Unwille, eigene Überzeugungen, Konventionen und »Theorie«-Ikonen zu hinterfragen, dass ein höheres Bildungsniveau antisemitische Tendenzen keineswegs zurückdrängt. Schließlich sind die Geistes- und Sozialwissenschaften der Ort, auf den die Rede vom »importierten Antisemitismus«, über den jetzt wieder viel diskutiert wird, in höchstem Maße zutrifft. Denn dass Edward Said, Achille Mbembe, Judith Butler und Jasbir Puar insbesondere an deutschen Hochschulen für tiefgründige, kosmopolitische Feingeister gehalten werden und als mutige Stimmen gelten, die sich dem Zionismus entgegenstellen, ist keineswegs der herausragenden Qualität ihrer Schriften und Pamphlete geschuldet. Vielmehr leisten diese die Vorarbeit für ein deutsches Publikum, das noch nicht wagt, solche Texte zu verfassen, mit deren Lektüre und der zugehörigen Lehre dafür aber einen stillen, langfristigen Tabubruch insinuiert und nebenbei noch meint, wichtige Kritik zu leisten. Deshalb wird in den hiesigen akademischen Institutionen besonders laut geschwiegen, was die jüngsten antisemitischen Ausschreitungen angeht, und deshalb hat sich kaum jemand, der dort tätig ist, bei Solidaritätskundgebungen für Israel blicken lassen, geschweige denn eine solche angemeldet oder an der eigenen Hochschule demonstrativ Einsatz gegen Antisemitismus gezeigt.

Dass viele Wissenschaftler und Kulturschaffende in Deutschland zu den jüngsten antisemitischen Ausschreitungen geschwiegen haben, ist mitunter einem standesgemäßen Rassismus geschuldet.

Was die Diffamierung Israels angeht, sind die Unterschiede zwischen salonfähigem Diskurs, populären Unterhaltungsformaten und harter Street-Cred indes verwischt; sie bestehen nur noch in der Form. Ob Mbembe behauptet, dass Gaza das »größte Freiluftgefängnis auf Erden« sei oder der Berliner Rapper Massiv sekundiert: »Gaza, es gibt keine Unterschiede zum Warschauer Ghetto!«; ob Ali Erbaş, der Vorsitzende der türkischen Religionsbehörde Diyanet, verlautbaren lässt, dass der »Baby­mörder Israel« aufgehalten werden müsse oder ob die queertheoretische Agitatorin Puar nahelegt, Israel habe erschossenen Palästinensern Organe entnommen; ob im Seminarraum die Grübeleien der gendersensiblen Antizionistin Judith Butler über »gefährdetes Leben« repetiert werden; ob der Ivy-League-Professor Edward Said einst symbolisch Steine auf Israel warf oder sogenannte erlebnisorientierte Jugendliche auf einer Demonstration in Berlin schwe­rere Wurfgeschosse vorziehen: All dies verdeutlicht, dass Antisemitismus keineswegs als Randphänomen, sondern als politisches Problem der sogenannten Mitte der Gesellschaft zu verstehen ist. Dass man sich in genau dieser Mitte besonders gerne »Unerträglich!« und »Nie wieder!« zuruft, ohne Taten folgen zu lassen, weil man diese Rufe eben vorwiegend füreinander tätigt, ist lediglich die zynische Spitze des Gewohnten.