Arye Sharuz Shalicar, Presseoffizier bei den Israel Defense Forces, im Gespräch über die Lage in Israel nach dem Waffenstillstand

»Der Konflikt war ein interner palästinensischer Machtkampf«

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Am Freitag, dem 21. Mai, um zwei Uhr morgens trat der Waffenstillstand in Kraft. Die Erfahrung aus den vergangenen Gaza-Kriegen (2008/09, 2012, 2014) spricht dafür, dass die Hamas wieder angreifen wird. Was ist dieser Waffenstillstand wert?
Israel hat für eine unbestimmte Zeit Ruhe. Mit radikalislamischen Terror­organisationen wie der Hamas und dem palästinensischen Islamischen Jihad – die auch noch den Iran und die Hizbollah hinter sich haben – ist Frieden unmöglich. Nun sind sie geschwächt; um sich auf den nächsten Schlagabtausch vorzubereiten, werden sie ein bisschen brauchen.

Was meinen Sie genau mit Ruhe? Die Menschen in Sderot hatten seit 2014 nur kurzzeitig keinen Raketenbeschuss.
Der jüdische Staat will Ruhe. Diese Ruhe gibt es vielleicht nicht für die Bewohner an der Grenze zum Gaza-Streifen und im Süden Israels, die ständig mit Raketenangriffen rechnen müssen. Doch in Tel Aviv und Jerusalem konnte man in den vergangenen sieben Jahren ruhig leben. Beim jüngsten Waffengang hat aber auch die dortige Bevölkerung mitbekommen, wie schnell so ein Konflikt eskalieren und die Realität des Südens auch zu ihrer werden kann. Inzwischen kann man am Strand wieder feiern. Doch die Realität im Süden bleibt eine andere. Die Terrorgefahr kann Israel nicht zu 100 Prozent beseitigen.

»Ohne ›Iron Dome‹ gäbe es inner­halb von wenigen Stunden Hunderte von Opfern. Die Regierung wäre sofort unter Druck gewesen und hätte schon nach zwei Tagen Boden­truppen entsandt.«

Welche Strategie verfolgt Israel?
Man hat Milliarden in Schutzmaßnahmen wie das Luftabwehrsystem »Iron Dome« investiert. Ohne »Iron Dome« gäbe es innerhalb von wenigen Stunden Hunderte von Opfern. Die Regierung wäre sofort unter Druck gewesen und hätte schon nach zwei Tagen Bodentruppen entsandt. Dann gäbe es noch mehr Opfer auf beiden Seiten. Jetzt konnte man in vielen Fällen koordiniert und ohne extremen Zeitdruck Ziele anfliegen und bei Sichtung von Zivilisten Operationen abbrechen. Das ist beim Einsatz von Bodentruppen schwieriger.

War der Krieg dieses Mal schlimmer als 2014?
Der Krieg war schneller und tödlicher, was die Feuerkraft der Hamas betrifft. In kürzerer Zeit konnte sie mehr Salven abschießen. Sie hat auch mehr Städte getroffen.

Und die Gefahr, die von den Tunneln ausgeht?
Die nach Israel hineinführenden Tunnel stellten damals eine viel größere Bedrohung dar. Jetzt konzentrierte man sich mehr auf die unterirdischen Tunnel innerhalb des Gaza-Streifens, die Rückzugs- und Operationsgebiete.

Warum hat Israel auf eine Bodenoffensive verzichtet?
Auch ich war dagegen. Im Endeffekt muss man sich überlegen, wie viele Menschenleben man für seine Ziele zu opfern bereit ist. Die IDF sind auch auf ein solches Szenario bestens vorbereitet. Doch in der Realität läuft es immer anders als geplant. Jeden Tag würden wir Soldaten verlieren. Das will hier niemand. In die Enklave einzumarschieren, bedeutet Guerillakampf. Die Terroristen verstecken sich inmitten der Zivilbevölkerung.

Aber brächte eine Bodenoffensive nicht eine langfristige Lösung?
Die Frage ist, wie tief gehen die IDF rein? Sollen sie die Hamas-Führungspersonen einzeln aus ihren Bunkern tief unter der Erde herausholen und zahlreiche tödliche Überraschungen überwinden? Wenn wir Verletzte und Tote haben, wird es sehr problematisch. Wie wir jetzt vorgegangen sind, ist keine perfekte Lösung. Aber die Hamas wurde zurückgeschlagen. Ihre Produktions- und Waffenindustrie wurde geschwächt, ihre finanziellen Möglichkeiten wurden beschnitten. Wenn ihr Geldzufluss und die Lieferungen vermindert sind, dann verzögert das ihre Wiederbewaffnung.

Einen neuen Waffengang könnte es dadurch erst wieder in einigen Jahren geben?
Vielleicht in zehn oder 20 Jahren. Bis dahin könnte es auch positive Veränderungen geben.

Könnten moderate Kräfte erstarken?
In der Hinsicht sieht es leider nicht so gut aus. Die Hamas und der Islamische Jihad haben 60 000 Mitglieder. Die Kinder sehen sie als Helden und werden von den Terrororganisationen mit Hass indoktriniert.

Was war das Ziel der Hamas bei diesem Konflikt?
Wegen den von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) abgesagten Wahlen hat die Hamas deren Angst gewittert, ein Vakuum entstand. Dieses versuchte sie durch Aggressivität zu füllen. Sie sieht sich als Beschützerin von Jerusalem, denn die Stadt hat eine Symbolik für die gesamte islamische Welt. Aber vor allem sieht sich die Hamas als die Vertreterin aller Palästinenser, nicht nur des Gaza-Streifens. Dieser Prozess läuft schon seit 30 Jahren, über die erste und zweite Intifada bis jetzt. Alles hat die Hamas nur gestärkt.

Auch im Westjordanland?
Dort geht die Hamas langsam vor. Nach und nach sieht man dort immer mehr grüne Flaggen. Früher hätte sich das niemand getraut, die PA hätte brutal durchgegriffen. Aber sie fürchtet sich immer mehr, gegen die sogenannten Hamas-Clans vorzugehen.

Fürchtet Mahmoud Abbas, der Präsident der PA, nicht um seine Macht?
Er hat große Angst. Seit vorigem Monat herrscht ein interner palästinensischer Machtkampf, der auf dem Rücken Israels ausgetragen wurde.

Welchen Einfluss hat der Iran auf die Kampfhandlungen gehabt?
Zusammen mit Katar, dem Erdoğan-Regime oder auch der Hizbollah ist der Iran die Hauptkraft hinter der Hamas und dem Islamischen Jihad. Letzterer ist keine kleine Organisation mehr und operiert im Gaza-Streifen unabhängig von der Hamas. Der Einfluss des Iran auf die militanten Palästinen­sergruppen ist enorm. Die gesamte Ideologie und Propaganda kommen aus Teheran, auch Finanzierung und logis­tische Hilfe.

Welche Auswirkungen hat der jüngste Konflikt auf den Iran und die Hizbollah?
Die libanesische Schiitenmiliz ist schlagkräftiger als die Hamas, nicht zuletzt bezüglich der Reichweite, Anzahl und Präzision ihrer Raketen, die sie in kürzester Zeit abfeuern kann. Die IDF haben deshalb schon seit Jahren klargemacht, dass es im Falle eines Hizbollah-Angriffs keine präzisen Luftschläge geben wird, sondern einen richtigen Krieg. Das schreckt die Hizbollah ab. Sie hat aber auch interne Probleme, weshalb sie nicht auf ein militärisches Abenteuer aus ist.

Viele Regierungen betonten Israels Recht auf Selbstverteidigung. Gleichzeitig gab es auch viel internationale Kritik.
Im Vergleich zu den vergangenen Kriegen gab es diese Kritik kaum aus der arabischen Welt. Es gab keine einseitige Verurteilung Israels. Wenn es Kritik gab, dann galt sie beiden Seiten. Anders als in der Vergangenheit schreit die arabische Welt nicht mehr: »Israel ist schuld«. Viele erkennen, dass der jüdische Staat ein positiver Akteur ist, der ihnen in vieler Hinsicht hilft. Denn die Hamas und der Islamische Jihad sind auch eine Gefahr für arabische Regierungen. So wie die Mullahs im Iran eine Gefahr für die gesamte Region darstellen. Daraus spricht also keine Liebe zu Israel, es hat mit Interessen zu tun.

Noch schlimmer als die Raketen war die Bürgerkriegsatmosphäre in Israel, sagte etwa Yair Revivo, der Bürgermeister der israelischen Stadt Lod, wo es zu Gewalt zwischen jüdischen und arabischen Israelis kam. Werden die Wunden heilen?
Die Wunden werden heilen, aber es wird eine Narbe in der Gesellschaft bleiben, die jederzeit wieder aufplatzen kann. Bis auf einige Extremisten auf beiden Seiten befürworten die meisten Juden und Araber die Koexistenz. Israel ist zwar ein mehrheitlich jüdischer Staat, doch der Großteil der Minderheitenangehörigen ist glücklich und stolz, nicht in Syrien oder dem Gaza-Streifen zu leben, sondern hier in Freiheit. Sie wissen diesen Staat zu schätzen – jeder aus seinen Gründen. Aber einige Extremisten wollten keine Koexistenz. Sie wurden von der Hamas aufgehetzt und sympathisieren mit ihr. Nicht öffentlich, aber sie wünschen sich eine Herrschaft der Radikalislamisten.

Kommt es bald wieder zum Krieg?
Solange wir bereit sind abzuschrecken, vermutlich nicht. Doch das Mullahregime in Teheran­ ist pragmatisch. Sie handeln klug, sie wollen Macht und mit den bedeutendsten Staaten dieser Welt am Tisch sitzen. Vor allem aber möchten sie in der islamischen Welt die Nummer eins sein.

Dann ist der Iran also der Kern des Problems?
Schon 1979 sagte Revolutionsführer Ayatollah Khomeini, dass es nicht um den Iran, sondern um die Region und ­­um den Islam geht. Seit über 40 Jahren vergrößern sie – genau wie die Hamas und Hizbollah – Schritt für Schritt, klug und pragmatisch ihre Macht. Über die Revolutionsgarden hat der Iran auch Stellvertretertruppen in anderen Ländern aufgebaut, etwa im Libanon, Irak und Jemen. Mit dieser »Staat im Staate«-Strategie üben sie in diesen Ländern Kontrolle aus, ohne mit ihren eigenen Soldaten dort zu sein. Dagegen vorzugehen, ist nicht einfach.