Platte Buch: Lost Girls: »Menneskekollektivet«

Konzeptuelle Strenge

Kolumne Von

Das Computerprogramm Racter zählte 1984 grammatikalisch perfekt eine Liste an Grundbedürfnissen des Menschen auf. 40 Jahre später wurde diese Liste, enthalten in dem ersten mit Hilfe von künstlicher Intelligenz, eben Racter, geschriebenen Buch »The Policeman’s Beard Is Half-Constructed«, von der Band Lost Girls vertont. Die besteht aus der Experimentalkünstlerin und Autorin Jenny Hval und der Multiinstrumentalisten Håvard Volden aus Norwegen, den entsprechenden Song findet man auf ­ihrem Debütalbum »Menneskekollektivet«.

»Menneskekollektivet« klingt keineswegs so stolpernd, wie man es sich bei dem Titel (Norwegisch für »menschliches Kollektiv«) vorstellen mag. Hval ist bekannt für ihre präzise komponierten Konzeptalben, in ­denen sie in mitunter eisigen Tönen und analytischer Schärfe über Mens­truationsblut, Vampire, Black Metal, Mutterschaft oder Liebe als Arbeit singt.

Die Platte eröffnet mit einem Spoken-Word-Intro, in dem Hval alle möglichen existentiellen Fragen mit monotoner Stimme lose in den Raum wirft, ohne sich wirklich für eine Antwort zu interessieren. Wer bin ich? Bin ich ich? Was ist Ich? Und was meinen die Zeugen Jehovas dazu?

Es ist eine seltsame Gratwanderung zwischen losem Assoziationsquatsch und scharfer linguistischer Analyse, experimenteller Lyrik und konzeptueller Strenge, die Lost Girls auf ihrem Debüt vereinen. Das Album handelt von dem Wort als gesprochenem, ausgeführten Akt und der Unmöglichkeit von Wörtern, von Sprache, tot wie sie im nächsten Moment nach dem Sprechen bereits wieder ist, Liebe zu enthalten (»Words just don’t hold things like love, lovers«).

»Menneskekollektivet« ist so vielschichtig, dass selbst noch im Bandnamen eine Geschichte steckt. Lost Girls beziehen ihren Namen aus dem Graphic-Novel-Porno von Alan Moore und Melinda Gebbie. Darin treffen sich die mittlerweile gealterten weiblichen Hauptfiguren aus »Alice im Wunderland«, »Peter Pan« und »Der Zauberer von Oz« in einem Hotel und tauschen sich über ihre sexuellen Erfahrungen aus, um anschließend in leidenschaftliche, ausufernde Orgien zu verfallen.

Lost Girls: Menneskekollektivet (Smalltown Supersound)