Das zweite Album der britischen Band Black Midi, »Cavalcade«

Musikalisches Schaulaufen

Virtuosen sind die drei Mitglieder der britischen Band Black Midi. Auch auf ihrem zweiten Album »Cavalcade« schrecken sie nicht davor zurück, ihre Könnerschaft geradezu exzessiv unter Beweis zu stellen.

Sie sind unglaublich umtriebig, übertrieben talentiert und unterhaltsam dazu – zuletzt konnte man sich davon bei einer von ihnen moderierten Radioshow überzeugen. Die Rede ist von der Londoner Band Black Midi, die im vergangenen Jahr beim britischen Online-Radiosender NTS die »Black Midi Variety Hour« streamte. In einer Episode will der Black-Midi-Sänger und ­Moderator Geordie Greep den von einer Schaffenskrise gebeutelten (Tour-)Keyboarder Seth Evans unter anderem davon überzeugen, nur noch die weißen Tasten zu spielen – vielleicht würde ihm das ja aus dem kreativen Loch helfen. »Das geht gar nicht, was ist mit der Kunstfreiheit? Ist es überhaupt möglich, ein freies Leben zu führen, wenn man nur die weißen Tasten benutzt?« echauffiert sich dieser, ehe er sich mit einem ­locker-lässigen Pianosolo den Frust vom Leib spielt. In derselben Folge kann man dann auch noch großartigen Coverversionen von Björks ­»Bachelorette« (arrangiert von Bassist Cameron Picton) und Bruce Springsteens »Born to Run« staunend lauschen.

Dass Black Midi nicht einfach eine weitere britische Rockband sind, war eigentlich schon seit der Veröffentlichung ihres Debütalbums »Schlagenheim« (2019) klar; der hörenswerte Podcast mit den eingespielten Prog-Instrumentals, den Jazz-Jingles und der zur Schau gestellten Experimentierfreudigkeit hat diesen Eindruck bestätigt. Umso gespannter wurde »Cavalcade« erwartet, das nun erschienene zweite Album der Londoner Jungs. Und, was soll man sagen? Es ist ein Ritt durch die Geschichte der populären Musik geworden, ein Album, auf dem sie Mathrock, Atonales, musicalartige Passagen und Zappaeskes zusammenbringen. Ein irres, mitunter anstrengendes Stück Musik.

Seit »Schlagenheim« ist die Band zum Trio geschrumpft. Gitarrist Matt Kwasniewski-Kelvin macht derzeit ein Sabbatical aufgrund psy­chischer Probleme. Es verbleiben Sänger und Gitarrist Geordie Greep, 21 Jahre alt, aus Walthamstow, East London, der Kopf der Band; Bassist Cameron Picton, ebenfalls 21, aus Wimbledon in Southwest London; und Schlagzeuger Morgan Simpson, 22, aus Hertfordshire, nördlich der englischen Hauptstadt, der vielleicht ­Talentierteste unter den Talentierten. An den Aufnahmen zu »Caval­cade« waren zudem der Live-Saxophonist Kaidi Akinnibi und der ­Keyboarder Seth Evans beteiligt, um dem Album einen gehörigen Prog-/Jazz-/Fusion-Schliff zu verleihen. Ein ungeheures Instrumentarium, zig verschiedene Gitarren, Keyboards, Synthesizer und Percussion-Elemente haben Black Midi beim Einspielen der neun Tracks im Studio im Gepäck gehabt.

Zusammengekommen ist die Band 2016 an der BRIT School for Performing Arts & Technology, ­frühe Einflüsse waren so unterschiedliche Formationen wie das Maha­vishnu Orchestra und die Swans. Ihre ersten Stücke erschienen auf dem Label Speedy Wunderground, wo früher auch die jüngst so gefeierten Black Country, New Road und Kate (Kae) Tempest veröffentlicht haben.

Nachdem das Debüt noch einigermaßen postpunkig daherkam, hätte das auch eine recht exklusive Veranstaltung für Musikstreber werden können – das ist aber zum Glück keineswegs der Fall. Zwar ist »Cavalcade« – das Wort bezeichnet einen Umzug oder eine Parade – in Teilen auch ein musikalisches Schaulaufen, bei dem die Herren zeigen, was sie drauf haben, aber zu keinem Zeitpunkt klingt das Album allzu muckermäßig. Vielmehr spricht aus »Cavalcade« der deutliche Wille der Band, sich weiterzuentwickeln, indem sie die Einflüsse aus Jazz/Prog, Mathrock und dem Great American Songbook stärkt, wobei das Dreckig-Noisige immer mal wieder durchschimmert.

Die Songs sind alle bis ins Detail durchkomponiert und -arrangiert. Das erlaubt Black Midi auch, in Live-Versionen die Instrumentierung zu variieren. Einige tolle Sessions, die die Band für den Seattler Sender KEXP aufgenommen hat, sind auf Youtube zu sehen, einer davon ist mehr als 1,1 Millionen Mal abgerufen worden. Dort bekommt man einen guten Eindruck davon, was die Band live auszeichnet.

Schon die ersten beiden Songs (nach dem Intro) auf »Cavalcade« sind extrem unterschiedlich geartet. Der Song »John L«, der von einem obskuren politischen Führer handelt, ist nervös, fiebrig, voller Wendungen; Saxophon und Rhythmus­gitarre sind im Staccato zu hören, das Schlagzeug spielt Break um Break, dann gibt es hintergründigen Piano- und Sax-Wahnsinn zu hören. Auch die andere Gitarre hat der Wahn ereilt, aber das Rhythmusgerüst hält all diese Klänge wundersamerweise irgendwie zusammen. Das Ganze ­erinnert an Progrock-Granden à la King Crimson oder The Mars Volta.

Und direkt danach? Folgt eine Hommage an »Marlene Dietrich«. Black Midi verneigen sich unter ­anderem vor deren Darbietung in Brechts »Dreigroschenoper«; der Song ist mit elegischen Streicherarrangements instrumentiert und Greep trägt das Stück in einem Duktus vor, in dem auch die Dietrich es hätte singen können. »(…) Her hands loosen all / And her voice brings you youth / Her cheeks cradle the holy breath / That pumps the lungs of her Mackie Messer«, singt Greep, als stünde er selbst auf der Bühne eines Etablissements im Berlin der zwanziger Jahre. Very British spricht er ihren Namen aus: »Marline Dietrick«.

Dann gibt es wieder völlig anders gelagerte Songs wie »Diamond Stuff«, bei dem verschiedene Bouzoukis (Lauten), eine Lap-Steel-Gitarre und Percussion eingesetzt werden und sich aus einer einfachen Folk-Melodie langsam ein getragener Song herausschält. Hier kommen die Einflüsse eher aus Genres wie Americana und dem arabischem Folk. Vielleicht am Eindrucksvollsten unterstreicht »Hogwash and Balderdash« (in etwa: Nonsens und Schwachsinn) die Dichte von Ideen auf diesem ­Album: Da trifft polyrhythmisches Getrommel mit Dumbek und Becken auf Gitarrensoli sowie unterschwellige, hastige Synthie- und Bläserklänge, es ist ein Hin und Her und Auf und Ab; zuweilen klingt es, als würde Igor Strawinsky Noiserock machen. Da ist es nur konsequent, dass dieses Stück sehr plötzlich abbricht. Es folgt das abschließende »Ascending Forth«, eine sorgsam arrangierte Ballade mit Singer/Songwriter- und Jazz-Versatzstücken, die den Eigensinn und die Eigenwilligkeit dieser Band in neun Minuten und 54 Sekunden auf den Punkt bringt und mit großem Pomp endet.

Bliebe für Black Midi nur noch ein Problem: Musik braucht auch Hörer. Man kann sich tatsächlich vorstellen, dass »Cavalcade« zwar alle echten Musikenthusiasten dieser Welt, Nerds und Kritiker begeistern wird, aber ob sie damit viele Fans gewinnen, darf bezweifelt werden. Single- oder radiotaugliche Stücke finden sich auf diesem Album jedenfalls nicht (selbst »Marlene Dietrich« klingt zu speziell und aus der Zeit gefallen). Für die Enthusiasten, Nerds und Kritiker macht das diese Band natürlich erst recht sympathisch. Sie alle dürften gebannt verfolgen, was aus dem Black-Midi-Universum zukünftig noch alles so kommt.

Black Midi: Cavalcade (Rough Trade ­Records/Beggars Group/Indigo)