Am »Tag gegen antimuslimischen Rassismus« in Göttingen wurde gebetet

Antirassistische Irrungen

Der »Tag gegen antimuslimischen Rassismus« soll eine solidarische, demokratische, freiheitliche und multireligiöse Gesellschaft befördern. Ob das aber alles so emanzipatorisch ist?
Raucherecke Von

Auf dem Markt vor dem Alten Rathaus in Göttingen haben sich zwischen Fachwerkhäusern, Kinderkarussell und Crêpe-Hütte etwa 20 Menschen versammelt, die auf den Beginn einer Kundgebung warten. Den 1. Juli haben NGOs zum »internationalen Tag gegen antimuslimischen Rassismus« ausgerufen, im Gedenken an die Ermordung von Marwa El-Sherbini 2009. Die Ägypterin war nach ihrer Zeugenaussage vor dem Dresdner Landgericht noch im Gerichtsgebäude von dem Angeklagten Alex W. erstochen worden. Sie war ein Jahr davor von dem Täter auf einem Spielplatz rassistisch und sexistisch beleidigt worden. Der Mord und die lange ausbleibenden Reaktionen hatten international für Empörung gesorgt.

Das Göttinger Bipoc-Kollektiv hat die Kundgebung und Demonstration organisiert, auch die Ortsgruppe des Bündnisses »Ums Ganze« hat für die Veranstaltung geworben. Etwas ungewöhnlich wirkt allerdings der Programmpunkt »Bittgebet für die Opfer von antimuslimischen Rassismus«. Zu Beginn der Kundgebung selbst begrüßt die Moderatorin alle Anwesenden mit einem beherzten »al-salamu alaykum«. Dem schließt sich eine Beschreibung der Vorgänge um die Ermordung El-Sherbinis an, geschmackloserweise allerdings aus der Ich-Perspektive des Opfers. Das angekündigte Gebet wird von der Muslimischen Hochschulgruppe (MHG) vorgetragen und soll den Opfern des Terroranschlags in Hanau, des NSU und des sogenannten antimuslimischen Rassismus im Allgemeinen gelten. Die Vorbetende bittet den barmherzigen Allah, den rassistischen Tätern die Einsicht zu gewähren, dass ihre Einstellungen falsch seien. Sie betet, dass »wir« die richtigen Worte finden, um Rassismus zu benennen und ihm entgegenzutreten.

Die folgenden Redebeiträge beleuchten die rassistische Täter-Opfer-Umkehr, die der deutsche Staat und die Medien betreiben; den Versuch, den antisemitischen Normalzustand zu beschönigen, indem rassistisch motiviert vom importierten Antisemitismus gesprochen wird; und die Funktion als Sündenbock, die Musliminnen und Muslimen zugewiesen werde, um die imperialistische Ausbeutung »unserer Heimatländer« zu vertuschen. Von den mittlerweile etwa 100 Anwesenden brechen nicht alle mit der anschließenden kurzen Demonstration durch die Innenstadt auf.

Nun ja, vielleicht liegt es in der Natur der Sache, wenn an einem »Tag gegen antimuslimischen Rassismus« alle Opfer des NSU und des Attentäters von Hanau als muslimisch kollektiviert werden. Möglicherweise ließen sich Anlässe vorstellen, an denen Gebete auch bei linken Veranstaltungen einen sinnvollen Platz hätten. Dieser verregnete erste Julitag ist jedoch kein solcher Anlass. Auch die Verurteilung des Antisemitismus wirkt wie ein Lippenbekenntnis angesichts dessen, dass Verurteilungen von Angriffen auf jüdische Einrichtungen aus der Göttinger Szene vor wenigen Wochen ausblieben. Das Bipoc-Kollektiv hatte vielmehr einen Redebeitrag auf der örtlichen antizionistischen Demonstration ­gehalten.

Der in der radikalen Linken mittlerweile weitverbreitete Verzicht auf strukturelle Religionskritik und das Bedürfnis, auf der politisch richtigen Seite zu stehen, scheinen mal wieder stärker ­gewesen zu sein als die inhaltliche Analyse der gesellschaftlichen Widersprüche und Unterdrückungsmechanismen. Dabei könnte man damit auch dem Rassismus und dem Hass auf Muslime und als solche wahrgenommene Menschen mehr entgegensetzen als mit Gebeten.