In Berlin leben viele Russen, die das Land aus politischen Gründen verlassen haben

Die Intelligenzija haut ab

Viele gebildete Russen, die kritisch gegen die russische Regierung eingestellt sind, wandern nach Berlin aus. Das schwächt die Opposition im Land.

Seit über 100 Jahren ist Berlin ein Zentrum russischer Emigration. Nach dem Zerfall der Sowjetunion kamen Millionen Spätaussiedler, Russlanddeut­sche und jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland (siehe Interview »Viele sehen sich in Kon­kurrenz zu den Flüchtlingen«). Die Menschen dagegen, die in den vergangenen Jahren aus Russland nach Deutschland emigrierten, taten dies vor allem aus politischen oder ökonomischen Gründen. Viele von ihnen haben einen hohen Bildungsgrad, sie stammen mehrheitlich aus russischen Metropolen. Viele Angehörige dieser sogenannten Intelligenzija, zu der Journalisten, Wissenschaftler sowie Kunst- und Kulturschaffende gehören, zieht es nach Berlin, wo über 200 000 russischsprachige Personen leben.

»Die Mehrheit von uns hätte Russland unter anderen politischen Umständen niemals verlassen, wir wurden dazu genötigt. Es hieß nun mal: Exil oder Gefängnis.« Olga Romanowa, Autorin und Bürger­rechtlerin

Weil die russische Regierung immer autoritärer wird, sehen viele für sich keine Zukunft in Russland. Zu ihnen gehört die Journalistin, Autorin und Bürgerrechtlerin Olga Romanowa, die seit Juni 2017 in Berlin lebt. Sie musste Moskau verlassen, nachdem Sicherheitsbeamte die Räume ihrer NGO Rus Sidjaschtschaja (Russland hinter Gittern) durchsucht hatten, unter dem Vorwand, sie habe Staatsgelder veruntreut – sie selbst sagt, sie habe nie welche angenommen.

Rus Sidjaschtschaja deckt Missstände des russischen Justizsystems auf und setzt sich für die Rechte von Gefangenen sowie politisch Verfolgten ein. In Russland wurde die NGO zum »ausländischen Agenten« erklärt, was die Arbeit erschwert, aber nicht unmöglich macht. Als »ausländische Agenten« gelten seit 2012 NGOs, die in Russland politisch tätig sind und finanzielle Mittel aus dem Ausland erhalten.

Romanowa arbeitet von Berlin aus für Rus Sidjaschtschaja, darüber hinaus kümmert sie sich um Geflüchtete aus Russland und ist für den regierungskritischen Fernsehsender Ostwest (bis 2018 RTVD) tätig. Anfangs habe sie noch gehofft, bald zurückkehren zu können, erzählt sie im Gespräch mit der Jungle World. Aber schon bald sei ihr klar geworden, dass dies nicht mehr möglich ist, da die Situation für Oppositionelle sich weiter verschlechtert habe. Auch der Großteil ihrer Familie sei ausgewandert, nur ihre Mutter lebe noch in Moskau.

Asyl habe sie dennoch nicht beantragt: »Ich glaube, nur wenige verstehen, was die Entscheidung, einen Flüchtlingsstatus anzunehmen, tatsächlich bedeutet. Dann gibt es kein Zurück mehr.« Emigration sei kein Zuckerschlecken. Viele Russen beneideten einen darum, da sie es sich nicht leisten können, aus Russland auszuwandern. Oft heiße es: »Ihr habt es geschafft, auszubrechen, und wir sind immer noch hier.« Man müsse sich anhören, man sei ein Ver­räter oder habe aufgegeben. Viele hätten das Problem, dass ihre Qualifikationen in Deutschland nicht anerkannt werden. »Die Mehrheit von uns hätte Russland unter anderen politischen Umständen niemals verlassen, wir wurden dazu genötigt. Es hieß nun mal: Exil oder Gefängnis.«

Berlin habe Romanowa als ihr neues Zuhause ausgewählt, da es das kreative, offene und freiheitsliebende Zentrum Europas sei und Moskau in vielerlei Hinsicht ähnele. Wer den Status quo verändern wolle, sei gezwungen, Russland zu verlassen. Einen Machtwechsel könne es erst geben, wenn Präsident Wladimir Putin physisch nicht mehr in der Lage ist zu regieren. »Aber auch nach Putin wird es keine große Veränderung geben. Ein großer Teil der Russen will eine Führerfigur wie Stalin zurück und Putin ist in vielen Hinsichten wie ein ›Stalin light‹.«

Tatsächlich ist Russland unter den »Top 10« der Herkunftsländer schutzsuchender Menschen, voriges Jahr stellten 1 700 einen Erstantrag auf Asyl in Deutschland. Viele von ihnen gehören zur LGBT-community. Diese war schon immer Repressalien und Diskriminierung ausgesetzt, doch seit 2013 das Gesetz gegen »homosexuelle Propaganda« verabschiedet wurde, hat sich die Lage noch verschlimmert. Besonders in der islamisch geprägten autonomen Republik Tschetschenien kam es zu staatlicher Verfolgung, Folter und Morden. Die Regierung im Kreml lehnt unter starkem Einfluss der Russischen Orthodoxen Kirche gleichgeschlechtliche Ehen ab, auch um sich vom Westen abzugrenzen.

Die Entscheidung, Asyl zu beantragen, traf auch der Musiker Gena Bogolepov, nachdem er mit seinem damaligen Partner im Dezember 2017 Sankt Petersburg verlassen hatte. Der 36jährige, der sich für LGBT-Rechte einsetzt, hat nie verheimlicht, dass er queer ist. Bis zuletzt war er als Musiker tätig und tourte durch unterschiedliche russische Städte. Zudem betrieb er »Datschniki«, die einzige queere Bar in Sankt Petersburg. Sie war jedoch häufigen Kontrollen ausgesetzt und wurde schließlich unter fadenscheinigen Vorwänden geschlossen.

Im Gespräch mit der Jungle World berichtet er, Drohungen erhalten zu haben, nachdem er einen regierungskritischen Song veröffentlicht hatte; eines Abends sei er schließlich zusammengeschlagen und ausgeraubt worden. Die Polizei habe sich geweigert, eine Anzeige aufzunehmen, und ihn homo­phob beleidigt. Da auch sein Pass bei dem Überfall geklaut worden sei, kam er nicht mehr an HIV-Medikamente. Diese erhält man in Russland nur gegen Vorzeigen des Ausweises.

Für HIV-Infizierte gibt es in Russland zwar Hilfe, aber nur unzureichend; Aids ist gesellschaftlich stark tabuisiert. Bogolepov sagt, als ihm wegen eines Beitrags, den er in den sozialen Medien veröffentlicht hatte, auch noch Sympathien für »politischen Extremismus« nachgesagt worden seien und ein Mann ihn beschuldigt habe, ihn mit HIV infiziert zu haben, sei ihm allmählich klar geworden, dass er Russland verlassen müsse. »Als mein Partner und ich aus Russland weggingen, wussten wir, dass wir nicht zurückkehren würden. Fast alle meine Freunde sind mittlerweile ausgewandert, nur meine Familie ist noch dort. Ich glaube nicht, dass die gesamte russische Gesellschaft homophob ist, aber fast alle meiner queeren Bekannten wurden bereits Opfer körperlicher Angriffe.« Seit Putins Amtsantritt habe sich die Situation für LGBT verschlimmert. Die Lage werde sich erst bessern, wenn LGBT-Rechte der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr egal seien. »Ihre Ignoranz kommt nicht daher, dass sie so böse sind, sondern daher, dass sie selbst so viele Probleme haben. Viele leiden unter existentieller Not und Depression.«

In Berlin arbeitet Bogolepov ehrenamtlich für Queer Amnesty, er nimmt an queeren Demonstrationen teil und plant, seine Karriere als Musiker fortzusetzen. Hier fühle er sich wohl, erzählt er, da er Deutsch spricht und viele Freunde hat. Er erhalte eine gute HIV-Therapie und sei mit der Organisation Quarteera e. V. vernetzt, die sich gegen Homophobie in der russischsprachigen community in Deutschland einsetzt.

Viele russische Auswanderer schließen eine Rückkehr aus, nicht selten weicht politisches Engagement der Resignation. Letztere empfindet auch Andrey Kezzyn, wenn er über Russland spricht. Der Fotograf ist vor fünf Jahren mit seiner Familie nach Berlin gekommen. Im Gespräch mit der Jungle World erzählt er, damals sei ihm klargeworden, dass man als selbständiger regimekritischer Künstler keine Existenzgrundlage in Russland hat. »Als 2014 die Olympiade in Sotschi eröffnet wurde, saßen meine Frau und ich vor dem Fernseher und verspürten ohnmächtige Wut und Ekel. Während in Russland unzählige Menschen in Armut leben und die Infrastruktur immer schlechter wird, ziehen die Regierenden der eigenen Bevölkerung das Geld aus der Tasche und verprassen es«, sagt Kezzyn.

Damals wurde eine Ausstellung Kezzyns in Sankt Petersburg, bei der ein polizeikritisches Bild gezeigt wurde, unter dem Vorwand des Brandschutzes geschlossen. Allmählich, so Kezzyn, hätten seine Frau und er verstanden, dass ihnen nur die Emigration blieb: »Wir haben nur ein Leben, ich möchte meines nicht für den sinnlosen Kampf gegen Putin opfern.« Wer sich in Russland regimekritisch äußere, kenne meistens schon jemanden, der verfolgt, abgehört oder verhaftet wurde.

Kezzyn wünschte sich auch bessere Bildung für seine beiden Kinder und wollte sie vor dem Dienst in der Armee bewahren. Die Militarisierung der russischen Gesellschaft fängt früh an: Bereits in der Schule lernen Kinder Kriegslieder, 2016 wurde durch einen Präsidialerlass die nationalistische Kinder- und Jugend-Militärerziehungsorganisation Junarmija (Jugendarmee) gegrün­det; sie zählt etwa 200 000 Mitglieder. Zudem gibt es eine zwölfmonatige Wehrpflicht.

Obwohl einer Umfrage des russischen Meinungsforschungsinstituts Lewada zufolge 2019 über 50 Prozent der jungen Russen auswandern wollten, genießt Putin noch immer große Zustimmung in der Bevölkerung. Das liegt wohl auch daran, dass russische Fernsehsender ihn zum glorreichen Führer stilisieren und den Westen dämonisieren. Wer sein ganzes Leben in Russland verbringt, kann nur schwer einen kritischen Blick auf das System Putin entwickeln. Diejenigen, die es konnten, wandern immer öfter ab.

Diese Abwanderung schwächt in Russland die Opposition. Zugleich verliert das Land gut ausgebildete Arbeitskräfte. »Es ist nicht bloß ein brain drain, dessen Auswirkungen das Land noch bitter zu spüren bekommen wird. Es bleiben die, denen die Situation ­egal ist, und jene, die davon profitieren«, sagt Olga Romanowa.