08.07.2021
Israelische und palästinensische Opferangehörige arbeiten zusammen

Geliebter Feind

Neben den Angriffen der Hamas gab es auch in Israel selbst gewaltsame Auseinandersetzungen. Indessen versuchen Eltern, deren Kinder im israelisch-palästinensischen Konflikt starben, weiterhin, auf Frieden hinzuarbeiten.

Erst ein paar Wochen ist es her: Die ­palästinensischen Terrororganisationen Hamas und Islamischer Jihad feuerten aus dem Gaza-Streifen mehr als 4 000 Raketen auf Israel, das mit harten Gegenschlägen antwortete. Während des elftägigen Konflikts zerstörte die israelische Armee Waffenproduktionsanlagen sowie weitere Terrorinfrastruktur – Betonanlagen, die sich in kilometerlangen unterirdischen Tunneln befanden, aber auch Kommandozentralen, die die Hamas oft in Wohngebieten platziert. Über 240 Menschen wurden im Verlauf des Krieges in der Küstenenklave getötet, die meisten davon Mitglieder militanter Paläs­tinenserorganisationen. Auf israelischer Seite starben zehn Zivilisten sowie ein Soldat.

In den immer wieder von Neuem angefachten Konflikten haben auf beiden Seiten etliche Familien Ange­hörige verloren. Trauer führt oft zu Verbitterung und dem Wunsch nach ­Rache. Doch auch während der jüngsten Konfrontation haben einige Juden und Araber zusammen für die Koexistenz gearbeitet. »Ich gebe die Hoffnung auf Frieden nicht auf«, sagt Robi Damelin aus Tel Aviv, die Sprecherin von Parents Circle – Families Forum (PCFF). Bei der Gruppe handelt es sich um einen Zusammenschluss von über 620 israelischen und palästinensischen Familien, die durch Terror beziehungsweise Terrorbekämpfung ein Kind oder andere nahe Angehörige verloren haben. Sie setzen sich gemeinsam für Dialog, Versöhnung und Toleranz ein.

Die Elterngruppe PCFF stellte während des diesjährigen Gaza-Kriegs ein Friedenszelt in Tel Aviv auf. Es sollte ein Forum für kritische Diskussionen bieten.

»Wenn wir keinen Ausweg finden, wird sich die Gewaltspirale weiter­drehen«, sagt die gebürtige Südafrikanerin Damelin. Sie trat der Organi­sation bei, nachdem ihr 28jähriger Sohn David 2002 von einem paläs­tinensischen Scharfschützen getötet worden war. Wie schon vorher, wenn sich der Konflikt militärisch zuspitzte, stellte die Organisation auch beim diesjährigen Gaza-Krieg ein Friedenszelt in Tel Aviv auf. Es sollte als Forum für kritische Diskussionen dienen. Auch per Videokonferenz sprachen zahlreiche trauernde israelische und palästinensische Familien miteinander, um über die Feindschaft zwischen ihren Gesellschaften und den israelisch-palästinensischen Konflikt zu debattieren. »Ich liebe Israel, aber ich möchte, dass wir in einem moralischen Land leben und die Palästinenser einen eigenen freien Staat haben«, sagt Damelin.

Das Elternforum wurde 1995 von Yitzhak Frankenthal gegründet, nachdem dessen Sohn Arik ein Jahr zuvor von Hamas-Terroristen entführt und getötet worden war. Durch Franken­thals Initiative fand bald darauf das erste Treffen zwischen betroffenen Familien auf beiden Seiten statt.

Hinter der Arbeit der Organisation steht die Überzeugung, dass der ­Prozess persönlicher Versöhnung eine ­Voraussetzung für einen anhaltenden Frieden sei. »Der Tod des eigenen Kindes ist für Eltern ein schweres Trauma«, sagt Bassam Aramin vom PCFF. Der Palästinenser aus ’Anata im Westjordanland verlor 2007 seine zehnjährige Tochter Abir, sie wurde von einem Gummigeschoss der israelischen Armee tödlich verwundet. »Ich habe nach einem Weg gesucht, den Kreislauf der Gewalt zu unterbrechen. Nichts ist für mich heiliger als das menschliche Leben, keine Rache und kein Hass kann mein Kind zurückbringen.«

Aramin glaubt, dass die persönliche Geschichte jedes Einzelnen entscheidend sei. Er sieht in der Empathie den wichtigsten Teil seiner Arbeit. Die Menschlichkeit des anderen müsse nachempfunden werden, sonst würden beide Seiten nur ihr eigenes Leid ­sehen. »Ein freies Palästina bedeutet auch ein freies Israel«, erzählt er. »Beide Staaten müssen auf diesem Land existieren, ansonsten werden zwei große Friedhöfe wachsen.«

Um ihre Botschaft international zu verbreiten, bereisen Mitglieder des PCFF zahlreiche Länder und treten in Schulen, im Radio und im Fernsehen auf. »Unsere Hauptkraft ist unser Schmerz«, meint Aramin. »Weil die Wunde so groß ist, möchten wir verhindern, dass andere Familien auf der Welt dasselbe Schicksal erleiden.«

Die Elterngruppe stößt aber auch Widerstand, auf israelischer wie palästinensischer Seite. Die Mitglieder werden heftig kritisiert und manchmal sogar bedroht. Ihre jährliche alternative Gedenkfeier für die ­Opfer beider Seiten des Konflikts wurde vor allem in Israel angefeindet, wo diese Feier stattfindet.

»Das PCFF politisiert die Trauer, um eine radikal linke Agenda zu verfolgen«, sagt Shlomo Zino von der konservativen Partei Likud in Haifa. Er sieht die Organisation als Verfechter des palästinensisch-arabischen Standpunktes. »Ein Vergleich zwischen Terroristen, die Kinder ermorden, und israe­lische Soldaten, die sich verteidigen, ist moralisch widerlich.« Zino sieht keinen Grund, dass Schüler in Israel sich mit den Opfern auf Seiten eines solchen Feindes identifizieren sollten. Er nehme solche Veranstaltungen sehr ernst, sagt er, da sie sich an junge Menschen richten, die kurz vor ihrer Ein­berufung stehen: »Ich kann mir nicht vorstellen, dass bei der Musterung der US-Armee Empathie für trauernde al-Qaida-Familien gelehrt wird.«

Das PCFF kämpft weiter für eine Zweistaatenlösung. »Langfristiges Ziel ist es, einen Rahmen für einen Versöhnungsprozess zu schaffen, der fester Bestandteil jedes zukünftigen ­politischen Friedensabkommens ist«, so seine Sprecherin Robi Damelin. »Ansonsten haben wir nur einen weiteren Waffenstillstand.«

Tatsächlich ist der Elternkreis im heutigen Israel geradezu subversiv. ­Allein dadurch, dass Israelis und Palästinenser den Verlust der anderen ­Seite anerkennen, untergraben sie auf beiden Seiten herrschende Vorstellungen. »Lasst uns das Töten beenden und durch Empathie ein normales ­Leben ohne Gewalt führen«, sagt Damelin und zitiert einen Satz vom Grabstein ihres Sohnes, der von dem libanesischen Philosophen Khalil Gibran stammt: »Die ganze Erde ist mein Geburtsort und alle Menschen sind ­meine Brüder.«