Das NS-»Euthanasie«-Mahnmal in Leipzig hat auch Unmut hervorgerufen

Verpasste Chance

Der Leipziger Universitätsrektor Karl Binding bereitete den ideologischen Boden für die spätere Ermordung Hunderttausender Menschen im Nationalsozialismus. Nun errichtet die Universität Leipzig ein »Euthanasie«-Mahnmal, dessen Entstehungsprozess von mehreren Seiten kritisiert wird.

Im Rektorat der Universität Leipzig hängt ein goldumrahmtes Gemälde, das den ehemaligen Rektor Karl Binding prunkvoll gekleidet im Jahr 1909 zeigt. Elf Jahre später verfasste er gemeinsam mit dem Psychiater Alfred Hoche eine Schrift, die heutzutage als publizistische Grundlage der »Euthanasie«-Morde im nationalsozialistischen Deutschland gilt: »Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens: Ihr Maß und ihre Form«. Darin führen Binding und Hoche aus, dass es keinerlei Gründe gebe, die Tötung von ­Menschen mit Behinderung nicht freizugeben.

Schon mehrmals stand Gunter Jähnig, der Geschäftsführer des Behindertenverbands Leipzig, vor dem Gemäl­de. Auf seinen Einsatz ist es zurückzuführen, dass die Universität Leipzig noch in diesem Jahr ein Denkmal für die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie« errichten will. »Dass es dieses Jahr noch passiert, glaube ich erst, wenn es steht«, sagt Jähnig im Gespräch mit der Jungle World. Erstmals habe er sich 2007 an die Universität gewandt, um die Errichtung eines Mahnmals anzuregen.

Eine Aufarbeitung der Frage, welche Universitätsangehörigen NS-Verbrechen begingen oder begünstigten, gibt es in Leipzig bis heute nicht.

Von 1939 bis 1945 war die universitäre Kinderklinik eine von zwei Leipziger Einrichtungen, in denen Menschen mit Behinderung systematisch ermordet wurden. Jähnig sieht die Universität in der Pflicht, einen Ort zu schaffen, der nicht nur an die etwa 2 000 in Leipzig ermordeten Menschen mit Behinderung erinnert, sondern auch eine Auseinandersetzung mit Ableismus und Behindertenfeindlichkeit in der Gegenwart anregt.

Geplant ist ein von zwei Künstlern der Universität entworfenes kombiniertes Denkmal: Auf dem Campus der Erziehungswissenschaftlichen Fakultät sollen ein Schreibtisch aus Beton und zwei gusseiserne Stühle die Systematik und das Machtgefüge hinter der Ermordung von Menschen mit Behinderung symbolisieren. Daneben soll ein Garten entstehen, den Studierende pflegen sollen.

Im Mai verkündete der Prorektor für Bildung und Internationales der Universität Leipzig, Thomas Hofsäss, dass der Garten von Auszubildenden des Bildungszentrums Bad Dürrenberg angelegt werden soll, einer Ausbildungsstätte für Jugendliche mit Beeinträchtigungen. Im Gespräch mit der Jungle World erläuterte Hofsäss, es solle ein »Bildungsimpuls« gesetzt werden: An den Tagen, an denen die Auszubildenden in Leipzig den Garten anlegen, könnten Studierende der Sonderpä­dagogik mit ihnen über die »Eutha­nasie«-Vergangenheit der Universität sprechen. Eine zusätzliche Vergütung bekämen die Auszubildenden für diese Arbeit nicht, da die Beteiligung an Bauprojekten zu ihrer Ausbildung gehöre. Später teilte Hofsäss mit, es sei noch nicht klar, ob die Kooperation tatsächlich stattfinden werde.

Sollte es dazu kommen, wäre das Anlegen des Gartens der einzige Abschnitt des langjährigen Entstehungsprozesses des Mahnmals, an dem Menschen mit Behinderung mitwirkten. Zwar saß Hofsäss zufolge der Vor­sitzende des städtischen Behindertenbeirats in der Auswahlkommission für das Denkmal, doch da­rüber hinaus sei »die aktive Einbeziehung von Menschen mit Behinderungen nicht angedacht« gewesen.

Aus Sicht von Antje Barten vom Antidiskriminierungsbüro Sachsen hat die Universität die Chance ­vertan, Menschen mit Behinderung bei der Konzeption des Mahnmals gezielt einzubeziehen. »Am Ende führen hier Menschen mit Behinderung mal wieder etwas aus, was vermutlich nichtbehinderte Personen konzipiert haben«, sagt Barten im Gespräch mit der Jungle World. Dies sei symptomatisch für eine Gesellschaft, in der Menschen mit Behinderung selten als Expertinnen und Experten auftreten dürften, weil ihnen oft Handlungsstärke abgesprochen werde. Dass sie strukturell benachteiligt seien, zei­ge sich auch an der starken Unterrepräsentation in Forschung und Lehre, so Barten weiter: »Wirklich empowernd wäre es, hätten Künstler*innen mit Behinderung dieses Denkmal entworfen.«

Barten zählt auf, wie die Universität die Expertise von Menschen mit Behinderung bei der Planung hätte berücksichtigen können: zum Beispiel durch eine öffentliche, bundesweite Ausschreibung oder eine gezielte Zusammenarbeit mit Selbstvertretungsorganisationen. »Man hätte auch Studierende der Sonderpädagogik losschicken können, um Menschen mit Behinderung zu befragen, was so ein Denkmal beinhalten muss.«

Auch Jähnig, der sich seit fast 17 Jahren um die Verwirklichung des Mahnmals bemüht, sagt, dass er die universitätsinterne Auftragsvergabe bedaue­re. Es sei nur das Ergebnis nach außen gedrungen, nicht aber das Wie und Warum. Dennoch sei er zufrieden mit dem finalen Konzept. Das geplante Mahnmal sei ein Zeichen dafür, dass sich die Universität mit ihrer historischen Schuld und Verantwortung auseinandersetzen will.

Eine kohärente, fächerübergreifende Aufarbeitung der Frage, welche Universitätsangehörigen NS-Verbrechen begingen oder begünstigten, gibt es in Leipzig wie an fast allen deutschen Hochschulen bis heute nicht. Zwar entzog die Stadt Leipzig dem ehemaligen Rektor Binding, der die Tötung von Menschen mit Behinderung rechtfertigte, 2010 postum die Ehrenbürgerwürde. Allerdings führt die Universität ihn nach wie vor als Ehrendoktor. Prorektor Hofsäss zufolge vertrete die Universität die Ansicht, dass die Ehrendoktorwürde mit dem Tod erlösche.

Doch es geht auch anders: Die Universität Salzburg beispielsweise entzog im Rahmen eines mehrjährigen Prüfungsverfahrens drei Wissenschaftlern postum die Ehrendoktorwürde wegen nationalsozialistischer Aktivitäten. Und im November 2020 stellte die Universität Hannover als erste deutsche Hochschule eine großangelegte Studie vor, die ihre NS-Belastung sowie ­Kontinuitäten in Forschung und Lehre untersucht.