Diaspora in Berlin

Der analoge Mann

Aus Kreuzberg und der Welt: Im Mainstream der Minderheiten.

In der Zeit des Lockdowns habe ich kaum Geld ausgegeben. Nach Terminvereinbarung allein im Laden zu stehen, fand ich stressig; online zu kaufen, uncool. Erst seit kurzem gehe ich wieder in Plattenläden. Neulich war ich bei Lefter Records in der Kreuzberger Gneisenaustraße. Erbatur Çavuşoğlu hat den Laden 2018 ­eröffnet, nachdem es ihm in Istanbul politisch zu heiß geworden war. Noch spricht er kein Deutsch, ansonsten hat er aber viel unternommen, um in Berlin anzukommen. In seinem Laden gibt es viele Neuerscheinungen, er veranstaltet dort Konzerte, unterstützt lokale Musiker und betreibt neuerdings ein eigenes Label.

Im vorderen Teil des Ladens präsentiert er Platten, Bücher und Comics von Kleinverlagen. Ich freue mich, dass ich bei Erbatur die drei vor kurzem in der Türkei erschienen Beat-Compilations des Labels Altın Mikrofon kaufen kann. Erbatur, der selbst Musiker ist, kennt sich wirklich aus. Ich erwerbe auch seine eigene Single, deren Cover Oska Wald, Comic­zeichner und Frontmann der Berliner Band Chuckamuck, gestaltet hat. Vorstellen möchte ich hier aber die neueste Veröffentlichung auf Rumi Sounds, dem Label von Erbatur: das Album »Sefardim« von Janet & Jak Esim, und die auch bei ihm erhält­liche Graphic Novel »Der letzte Deutsche« von Cansın Çağlar (Zeichnungen) und Hakkı Kurtuluş (Text). Es geht bei beiden um die europäische Diaspora.

Das Album »Sefardim« versammelt romansas. So heißen die Liebeslieder der ladinosprachigen Juden in Istanbul. Das Ladino ist die traditio­nelle Sprache der sephardischen ­Juden des ehemaligen Osmanischen Reichs, quasi das Jiddisch der im 15. Jahrhundert aus Spanien vertriebenen sephardischen Juden. Es sind sehr schöne Songs mit modernen Arrangements. Traditionell wurden diese von Frauen im häuslichen Bereich gesungen, religiöse Musik war dagegen Männern vorbehalten. Die Songs hat Jak Esim in vielen Jahren zusammengetragen und dazu die letzten ladinosprachigen Frauen interviewt. Das Album erschien erstmals 1992 als CD auf dem Berliner Weltmusiklabel Feuer & Eis und erhielt damals den Preis der deutschen Schallplattenkritik.

Rumi Sounds hat das Album jetzt erstmalig auf Vinyl veröffentlicht mit neuen Liner Notes von Julia Strutz, der Mitgründerin des Labels. An der Bedeutung der Stücke, die die Kritiker bereits vor 30 Jahren erkannten, hat sich bis heute nichts geändert. Die LP hat nicht nur archivarischen und historischen Wert, sie versammelt auch die damals besten türkischen Musiker im Bereich Jazz, Folk und Weltmusik. Der international bekannteste ist der Perkussionist Okay Temiz.

Auch der Comic »Der letzte Deutsche« beschäftigt sich mit einer Minderheit. Ein deutsches Dorf aus Pommern wurde im 15. Jahrhundert erst ins Baltikum und später in die Türkei umgesiedelt. Der Comic erzählt die Geschichte dieser Diaspora-Deutschen im Allgemeinen und die von August, dem letzten Bewohners dieses Dorfes, im Besonderen. Dieser kommt in den siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Deutschland. Der türkische Deutsche, der sich selbst immer als deutsch bezeichnet hat, wird hierzulande nicht als Deutscher erkannt.

In dieser Geschichte kann ich mich sofort wiederfinden. Mein Vater wurde in Polen geboren, meine Mutter in Rumänien. Er kam als Kind nach Kriegsende, sie erst 1960 als 20jährige nach Deutschland. Beide lernten sich Mitte der sechziger Jahre kennen. Sie verband, dass sie zwar deutsche Vorfahren hatten, aber irgendwie doch nicht »richtig« deutsch waren. Das jahrhundertelange ­Leben in der Diaspora verhandelt »Der letzte Deutsche«.

Comicfans bietet das Album auch graphisch eine überraschende Neuheit. Der türkische Zeichner Cansın Çağlar ist wie Erbatur wegen der ­Repression in der Türkei nach Berlin gekommen. Seine Skills hat er in der türkischen Szene erworben, wo Comics vor allem auf Zeitungen, also auf billigem Papier, gedruckt werden. Es überwiegt die Kurzform von Strips und Ein- und Zweiseitern. Erst später erscheinen die Seiten dann gesammelt als Album. Çağlars Comics sind offenkundig von der Kurzform beeinflusst. Seinen Zeichnungen ist eine dramatische Emotion eingearbeitet, die der unmittelbaren Wirkung der Geschichte hilft.

Erbatur Çavuşoğlu, der auf seinem Label die Musik von Diaspora-Juden in Istanbul veröffentlicht, und Cansın Çağlar, der in seinem Comic die ­Diaspora-Geschichte der Deutschen in der Türkei erzählt, haben einen ähnlichen Blick auf die Mehrheitsgesellschaft. Um ein Bild zu malen, muss man zwar nah dran sein, um es aber zu erfassen, einen Schritt ­davon weg gehen. Ohne einen Schritt weg von der Mehrheit gibt es überhaupt keine nennenswerte Kultur.

Hakkı Kurtuluş und Cansın Çağlar: Der letzte Deutsche. Mit einem Vorwort von Christoph K. Neumann. Interdictum Verlag, Berlin 2021, 96 Seiten, 19,95 Euro

Janet & Jak Esim: Sefardim (Rumi Sounds)