Der hitzige Streit über Wahlgesetze in den USA

Demokratie in Gefahr

In den USA behauptet die Republikanische Partei, mit neuen Gesetzen Wahlbetrug zu bekämpfen. Demokraten sprechen von einem Angriff auf die Demokratie.

»Ihr könnt mich verhaften. Ihr könnt mich nicht aufhalten. Ihr könnt mich nicht zum Schweigen bringen.« Die Autorin dieser Worte ist keine Extremistin, sondern Joyce Beatty, eine ­demokratische Abgeordnete im Repräsentantenhaus aus dem US-Bundesstaat Ohio. Am 16. Juli wurde sie mit 20 Unterstützern in einem Gebäude des US-Senats verhaftet, weil sie dort für ein Wahlreformgesetz demonstriert hatten.

Für US-Verhältnisse war das ein ungewöhnlich starker Politstunt: Es war der Vorabend der Feierlichkeiten zum Todestag des ehemaligen Mitglieds des Repräsentantenhauses, John Lewis, eines Veteranen der Bürgerrechtsbewegung der schwarzen US-Amerikaner. Die schwarze Abgeordnete Beatty ließ sich vor der Presse mit gefesselten Händen von der Polizei aus dem Senatsgebäude bringen.

Die Republikaner, so ihre Kritiker, wollten ein Problem lösen, das gar nicht existiere, um eine Reihe von vor allem die Unterschicht von Wahlen ausschließenden Maßnahmen zu rechtfertigen.

Es geht um einen politischen Konflikt zwischen Republikanern und Demokraten, der beiden Parteien zufolge an das Fundament der US-amerikanischen Demokratie rührt: Die Republikaner warnen wie ihr immer noch ­verehrter informeller Anführer Donald Trump vor Wahlbetrug und wollen in zahlreichen Bundesstaaten die Wahlgesetze verschärfen, was, so die Kritiker, vor allem ärmeren, weniger gebildeten und nichtweißen Bürgerinnen und Bürgern das Wählen erschweren würde. Dagegen streben die Demokraten auf Bundesebene eine ambitionierte Reform des Wahlrechts an, um den Zugang zu Wahlen landesweit einfacher und gerechter zu gestalten. Beide Seiten werfen der jeweils anderen vor, die Demokratie zu gefährden, und stellen sich selbst als deren Retter dar.

Wenige Tage vor Beattys Verhaftung beschwor der demokratische Präsident Joe Biden in einer Rede in Philadelphia den Kampf für freie Wahlen in dramatischen Worten. »Der Jim-Crow-Angriff des 21. Jahrhunderts ist real«, warnte er vor den Plänen der Republikaner. Als Jim-Crow-System bezeichnet man diskriminierende Gesetze und Verordnungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor allem in jenen südlichen Bundesstaaten, die nach der Aufhebung der Sklaverei die schwarze Bevölkerung weiter unterdrückten, unter anderem indem sie deren Teilnahme an Wahlen erschwerten. Die Aufhebung der Jim-Crow-Gesetze durch Bundesgerichte und -gesetze in den fünfziger und sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts war ein wichtiger Erfolg der Bürgerrechtsbewegung.

Doch dieser sei jetzt in Gefahr, warnte der US-Präsident: »Dieses Jahr allein haben 17 Bundesstaaten 28 neue Gesetze erlassen, die es für Amerikaner schwieriger machen, zu wählen.« Dazu kämen noch »fast 400 Gesetze, die Republikaner zu verabschieden versuchen«. Es handele sich um »eine neue Welle der Unterdrückung von Wählern und der rohen und anhaltenden Untergrabung der Wahlen«. Schlimmer noch: Die Republikaner wollten nicht nur das Wählen schwieriger machen, »es geht auch darum, wer die Stimmen auszählen darf«. Die Republikaner, so Biden, wollten mit dieser Aufgabe nicht mehr unabhängige Wahlbehörden, sondern »polarisierte Bundesstaatsparlamente und parteiische Akteure« betrauen.

Selbst nationale Wahlen wie die des Präsidenten organisieren in den USA die Bundesstaaten. Versuche, unter dem Vorwand des Kampfs gegen Wahlbetrug Druck auf Bundesstaaten auszuüben, in die Auszählung der Stimmen einzugreifen, wie sie Donald Trump bei der jüngsten ­Präsidentschaftswahl unternahm, könnten dank dieser Pläne der Republikaner in Zukunft erfolgreich sein, warnen die Demokraten.

Die Republikaner argumentieren, es gehe ihnen nur darum, die Integrität der Wahlen zu schützen, nämlich vor der Gefahr des systematischen Wahlbetrugs. Unter dem Slogan »Stop the Steal« hatte Trump seine Anhänger im Januar aufgerufen, den seiner Darstellung zufolge illegitimen Wahlsieg der Demokraten zu verhindern. Die Demokraten nennen das mittlerweile »The Big Lie«, eine offenbare Propagandalüge, die jeglicher Grundlage entbehrt, für ihre Anhänger aber zu einem Glaubenssatz geworden ist. ­Tatsächlich gibt es keine Belege für Wahlbetrug im großen Stil. Die Re­publikaner, so ihre Kritiker, wollten ein Problem lösen, das gar nicht existiere, um eine Reihe von diskriminierenden und vor allem die Unterschicht von Wahlen ausschließenden Maßnahmen zu rechtfertigen.

Ein Beispiel dafür ist die gesetzliche Pflicht, einen Ausweis mit Foto vorzulegen, bevor man seine Stimme abgeben darf, was bisher nur sieben Bundesstaaten verlangen. Viele US-Amerikaner haben keinen solchen Ausweis, den sie oft auch nicht benötigen, falls sie nicht etwa ins Ausland reisen wollen. »Dabei handelt es sich disproportional oft um Wähler mit niedrigem Einkommen, rassische oder ethnische Minderheiten, ältere Wähler oder Wähler mit Behinderungen«, argumentiert die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU). Zum Wählen einen Fotoausweis zu verlangen, sei also »Teil einer Strategie, die Fortschritte von Jahrzehnten beim Zugang zum Wahlrecht zunichte zu machen«. Gegen Wahlbetrug helfen diese Vorschriften dagegen nicht, wie eine im vorigen Jahr veröffentlichte, von 2008 bis 2018 reichende Untersuchung der Ökonomen Enrico Cantoni und Vincent Pons zeigte.

Gesetze, die nicht explizit diskriminierend sind, aber doch darauf ab­zielen, gewisse Bevölkerungsgruppen – Arme, Einwanderer, Frauen oder Schwarze – von der Wahl fernzuhalten, haben eine jahrhundertealte Tradition in den USA. Deshalb stellen die Demokraten den Kampf für stärkere Antidiskriminierungsgesetze auf Bundesebene als Verteidigung und Vertiefung der US-Demokratie dar. Noch aus anderen Gründen hat die Politik der Republikaner rassistische Konnotationen: Immer wieder schüren sie die Furcht, die Gesetzespläne der Demokraten würden es vor allem Millionen von »illegalen Einwanderern« ermöglichen, an Wahlen teilzunehmen. Die Radikalisierung der republikanischen Partei hin zu einem autoritäreren Nationalismus ­unter Donald Trump ist eng mit dieser Angstvorstellung verknüpft, die Demokraten nutzten demographische Veränderungen und Einwanderung, um ihre politische Macht dauerhaft zu festigen.

Noch haben die Republikaner genug Sitze im Senat, um die von Demokraten angestrebten Wahlreformen zu blockieren. Trotz seiner feurigen Rhetorik will Präsident Biden offenbar sein politisches Kapital zunächst darauf verwenden, mit den Republikanern die bevorstehenden Infrastruktur-, Wirtschafts- und Klimagesetze auszu­handeln, bei denen es um Ausgaben in Billionenhöhe geht. So dürfte der Kampf um die Wahlgesetzgebung die US-Politik in den nächsten Jahren weiter prägen.