Proteste und Repression in Kuba

Die Unzufriedenheit explodiert

Bilder von den sozialen Protesten in Kuba gehen seit dem 11. Juli um die Welt. Mit heftiger Repression geht die kubanische Regierung dagegen vor.

Für Yunior García Aguilera war die Demonstration vom Samstag nicht mehr als eine typische Reaktion der Regierung von Präsident Miguel Díaz-Canel. »Das ist eine alte Strategie, die eigenen Anhänger zu mobilisieren, um nach außen Legitimität zu symbolisieren. Doch viele Teilnehmer werden vom Arbeitsplatz oder aus der Schule zum Ort der Demonstration gekarrt«, sagt der 38jährige Theaterdramaturg. Er kümmert sich derzeit vor allem darum, den Aufenthaltsort mehrerer Hundert Vermisster, meist Jugendlicher, herauszubekommen. Die Gefängnisse der Insel sind voll nach den Protesten vom 11. Juli, als landesweit Tausende auf die Straße gingen und mit Parolen wie »Patria y vida« (Vaterland und Leben), »Renuncian« (Tretet zurück) oder »Basta ya« (Es reicht) ihren Unmut über die prekäre Situation und die Regierung kundtaten.

Mit moderner Technologie, ver­mutlich aus China, werden Video­sequenzen ausgewertet und anschlie­ßend mutmaßliche, oft jugendliche Steinewerfer aus den Wohnungen gezerrt.

Angefangen hatte alles in San Antonio de los Baños, einer Kleinstadt im Großraum von Havanna, wo am vorvergangenen Sonntagmorgen die Proteste begannen. Wie ein Lauffeuer verbreiteten sich die Bilder der Demonstration in den sozialen Medien inselweit und wurden zum Auslöser für die größten sozialen Proteste seit dem Sieg der Kubanischen Revolution 1959. Die Breite des Protests und die Tatsache, dass in mehr als 60 Orten und Städten der Insel friedlich demonstriert wurde, hat auch Aktivisten wie Michel Matos überrascht. »Keine kleine Oppositionsgruppe in Kuba hat die Chance, so etwas zu initiieren. Die Aussagen von kubanischen Politikern, dass die USA ­dahinterstecken, ist vollkommen haltlos«, meint er.

Der Dokumentarfilmer gehört zum Movimiento San Isidro, der Künstlergruppe, die 2018 aus dem Widerstand gegen das Gesetz 349 zur Regulierung der Kunst entstand, und gehört auch der Gruppe 27N an. Das Kürzel steht für den 27. November 2018, an dem sich vor dem Kulturministerium mehreren Hundert Künstlerinnen und Künstler sowie Intellektuelle versammelten, um gegen kulturelle Gängelung und Polizeirepression zu protestieren. Rund 30 von ihnen, viele international bekannt, wurden schließlich zum Dialog mit dem stellvertretenden Kulturminister Fernando Rojas vorgelassen, hielten untereinander den Kontakt und agieren seitdem gemeinsam. »Damals haben wir viel Solidarität erfahren, als wir nach dem Treffen mit dem Minister diskreditiert, drangsaliert und als Konterrevolutionäre beschimpft wurden. Aber eine derartige Explosion der Unzufriedenheit hat wohl niemand in Kuba erwartet. Das ist eine historische Zäsur«, meint Matos.

Diese Einschätzung teilen viele Kubaner auf der Insel, aber auch im Exil; so auch der kubanische Sozialwissenschaftler und Finanzexperte Pavel Vidal, der in Kolumbien an der Universität Javeriana in Cali lehrt. Schockiert haben ihn die Bilder von sechs uniformierten und zwei zivilen Polizisten, die auf einem Dach in Havanna einen Mann festnehmen und ihn dabei brutal zusammenschlagen. »Diese Bilder werden auch einen Effekt innerhalb des Systems, unter den Anhängern von Miguel Díaz-Canel, haben. So etwas war in Kuba bisher nicht vorstellbar. Diese Bilder, die über das Internet und die sozialen Medien noch in kleiner Zahl kursieren, können das politische Kapital der Regierung, ihre Glaubwürdigkeit innerhalb und außerhalb Kubas, erdrutschartig erodieren lassen«, meint der Wissenschaftler.

Vidal gehört sicherlich nicht zu den ausgewiesenen Kritikern der Regierung, aber seiner Meinung nach markiert der 11. Juli bereits jetzt eine Zäsur in der Kubanischen Revolution, die einst angetreten ist, um soziale Gerechtigkeit und direkte Partizipation auf der bis dahin von den USA dominierten Insel zu implementieren. Doch das historische Projekt steckt schon lange in der Krise und mit der Pandemie hat sich diese weiter verstärkt.

»Die Gefängnisse sind voll von verarmten Jugendlichen ohne Perspektive, die im Dezember 2020 verordnete Währungsreform hat die Schwächsten in der Gesellschaft dauerhaft getroffen und für uns gibt es keine Chance auf Mitgestaltung, auf Dialog, auf Par­tizipation. In Kuba regiert eine Gruppe von Menschen, die sich an die Macht klammert und sie nicht teilen will«, kritisiert Yunior García Aguilera. Auch er ist kein aus den USA finanzierter Konterrevolutionär, wie die kubanische Regierung gern über Dissidenten behauptet, sondern ein prämierter Künstler, der auf dem kubanischen Wikipedia-Pendant Ecured als Erneuerer des kubanischen Theaters bezeichnet wird.

Von 460 Verschwundenen und mutmaßlich Inhaftierten berichtet die juristische Hilfsorganisation Cubalex. Geleitet wird sie von Laritza Diversent aus dem US-Bundesstaat Pennsylvania. Sie musste die Insel vor sechs Jahren auf Druck der Regierung verlassen. Nun berät sie Anwälte, zivilgesellschaftliche Organisationen und Familien von Inhaftierten in Rechtsfragen. »Diese Repressionswelle ist beispiellos in der jüngeren kubanischen Geschichte – es gibt nichts Vergleichbares«, urteilt die Juristin im Gespräch mit der Jungle World.

Ernüchternd ist zudem, dass die Aussagen von Präsident Díaz-Canel seit dem 11. Juli zwar moderater geworden sind, aber Polizei und Militär, teils in zivil, die Straßen kontrollieren und auch mehrere Tage nach den Protesten noch Menschen festnehmen. Mit moderner Technologie, vermutlich aus China, werden Videosequenzen ausgewertet und anschließend mutmaßliche, oft jugendliche Steinewerfer aus den Wohnungen gezerrt. »Doch das betrifft nur die eine Seite – gegen Sympathisanten der Regierung und Polizisten, die ebenfalls Steine warfen und in einigen Fällen gezielt auch auf Demons­tranten schossen, wird allen Informati­onen zufolge nicht ermittelt«, kritisiert García Aguilera.

Der Verantwortliche für die Eskalation der Gewalt ist García Aguilera zufolge Díaz-Canel. Er habe zum Kampf aufgerufen, die Revolutionäre auf die Straße geschickt, um die Revolution zu verteidigen. Viele kritische Kubaner ­sehen darin einen Aufruf zum Bürgerkrieg. So auch Lynn Cruz, eine Schauspielerin und Mitarbeiterin der Havana Times. »Miguel Díaz-Canel hat eine Linie überschritten. Ich glaube, da gibt es kein Zurück«, sagt sie und fordert Aufklärung. Diese und juristische Aufarbeitung der Ereignisse vom 11. Juli und den Tagen danach sind für sie die Voraussetzung, um irgendwann in einen echten Dialog mit der Regierung zu treten.

Doch der Dialog scheint alles andere als erwünscht von Seiten des offiziellen Kuba. Mütter, Ehefrauen und Schwestern stehen sich vor den Gefängnissen die Füße platt, um Informationen über den Verbleib ihrer Angehörigen zu bekommen. Eine ist Yanisel Navarro Mustelier, die ihren Vater sucht und mehrfach an der Haftanstalt El Energético nahe Santiago de Cuba gewartet und um Informationen über den Gesundheitszustand ihres ­Vaters gefleht hat. Umsonst. Ihr Vater Juan Elias Navarro wurde am 11. Juli gemeinsam mit anderen Demonstranten festgenommen, hat wie viele andere »Patria y vida« zitiert, den im Februar 2021 erschienenen Song, der zur Hymne der Proteste wurde. In Kuba ist das de facto ebenso ein Delikt wie das Demonstrieren, obwohl die Verfassung das ausdrücklich gestattet. Juan Elias Navarro hat von diesem Recht Gebrauch gemacht und sitzt nun wie viele Hundert andere im Gefängnis. Wie viele Gefangene es sind, ist unklar. Offizielle Zahlen gibt es nicht; Schätzungen gehen bis zu 5 000.

Das seien allesamt von der US-Propaganda verwirrte oder auch bezahlte Unruhestifter, so in etwa die offizielle Darstellung der Regierung, die wie gewohnt die USA für alle Missstände verantwortlich macht. Unstrittig ist, dass das auf ein historisches Maximum verschärfte US-Embargo, das auch unter Präsident Joe Biden allen Erwartungen zum Trotz nicht gelockert wurde, zu der gravierenden ökonomischen Krise maßgeblich beiträgt. Gleichwohl ist vieles hausgemacht. So wie die stark zentralisierte Wirtschaft der Insel, die Tatsache, dass Reformen zögerlich, halbherzig und, wie die Währungsreform, zu einem ungünstigen Zeitpunkt erfolgten, so Ökonomen wie Pavel Vidal oder Omar Everleny Pérez.

Daran wird sich vorerst kaum etwas ändern, denn von Díaz-Canel gibt es keine Signale für einen Dialog und Versöhnung. Weiter so, das scheint die ­Devise des Präsidenten zu sein, der im April 2018 als Mann des Dialogs in Havanna gehandelt wurde. Auch Yunior García Aguilera hat daran geglaubt, der Díaz-Canel noch aus seiner Zeit als Erster Parteisekretär in Holguín, einer Stadt im Osten der Insel, kennt. »Damals musste man kein glühender Verehrer der Revolution sein, um mit ihm zu diskutieren«, erinnert er sich. Heutzutage ist das anders. Díaz-Canel hat die Ereignisse rund um den 11. Juli praktisch ­negiert. »Was die Welt im Moment von Kuba sieht, ist eine Lüge«, sagte er im Rahmen der Demonstration am Samstag in Havanna.