Die Kämpfe in der äthiopischen Region Tigray dauern an, eine Hungersnot droht

Eine Hungersnot droht

Die Kämpfe in der äthiopischen Region Tigray halten an. Auch ein von der Regierung erklärter Waffenstillstand verspricht keine Aussicht auf Frieden.

Der Krieg in Tigray geht weiter. Im November vorigen Jahres begannen in der Region im Norden Äthiopiens Kämpfe zwischen der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) und Truppen der äthiopischen Zentralregierung (Jungle World 48 und 51/2020); die TPLF stellt die Regionalregierung von Tigray. Seither wurden Tausende Zivilistinnen und Zivilisten getötet, nach Angaben von Amnesty International sind über 60 000 Menschen in das Nachbarland Sudan geflohen. Am Freitag voriger Woche warnten die Vereinten Nationen, 5,2 Millionen Menschen in Tigray seien vom Hunger bedroht.

Die äthiopische Regierung unter Ministerpräsident Abiy Ahmed hatte ­Tigray am 4. November vorigen Jahres den Krieg erklärt, nachdem eine Militärbasis nahe der tigrinischen Hauptstadt Mekele angegriffen worden
war. Abiy machte die TPLF dafür verantwortlich. Noch Anfang vorigen Jahres hatte er in der südafrikanischen Stadt Kimberley in einer Rede vor dort lebenden Äthiopierinnen und Äthiopiern eindrücklich Nelson Mandela als sein Vorbild zitiert und dazu aufgerufen, Hass und die Verbitterung über begangenes Unrecht ­hinter sich zu lassen, um das Land – vereint nach dem von Ahmed propagierten Prinzip des Medemer – zu Wohlstand zu führen.

»Medemer« ist der Titel eines Buchs, das Abiy Ende 2019 veröffentlichte. Der Begriff beschreibt ein Zusammenkommen unterschiedlicher Teile, die nur gemeinsam eine starke Einheit bilden können. Das Konzept wurde 2018 zu Beginn von Abiys Amtszeit euphorisch aufgegriffen und dutzendfach auf Wände in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba geschrieben – versprach es doch Frieden, mehr politische Teilhabe und mehr Wohlstand nach jahrelangen Unruhen.

Gegner des äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy werfen ihm eine Strategie des Aushungerns der Region Tigray vor.

Abiy begann gleich nach Beginn seiner Amtszeit im April 2018, seine Versprechungen zu erfüllen. Obwohl er als Soldat im Krieg gegen Eritrea (1998–2000) gekämpft hatte, unterzeichnete er im Juli 2018 nach jahrzehntelanger Feindschaft zwischen den beiden Ländern einen Friedensvertrag. Das brachte ihm 2019 den Friedensnobelpreis ein.

Innenpolitisch gab es ebenfalls überraschende Veränderungen: Abiy entmachtete viele Politiker der TPLF, die Äthiopien zuvor 25 Jahre lang als führende Kraft der Koalition Revolutionäre Demokratische Front der Äthiopischen Völker regiert hatte. Zudem besetzte er sein Kabinett ethnisch vielfältiger und berief mehr Frauen in Ministerämter als frühere Ministerpräsidenten, ließ politische Gefangene frei und kündigte an, Journalistinnen und Wissenschaftler dürften von jetzt an wieder frei berichten und publizieren. Seit dem Ausbruch des Kriegs in Tigray ist die Bevölkerung wieder vorsichtig mit politischen Äußerungen in der Öffentlichkeit geworden.

Abiy hatte die TPLF so umfassend entmachtet, dass diese begann, sich auf ihre Kernregion Tigray zurückzuziehen. Dort regte sich alsbald starker Widerstand gegen Abiy, der darauf hindeutete, dass die TPLF eine Unabhängigkeit der Region anstrebt. Im September vorigen Jahres hielt Tigray gegen den Willen der Zentralregierung regionale Parlamentswahlen ab, nachdem die für den August desselben Jahres geplanten ­landesweiten Parlamentswahlen wegen der Covid-19-Pandemie für unbestimmte Zeit verschoben worden waren. Im November erklärte Abiy den Krieg, nachdem eine Militärbasis in ­Tigray angegriffen worden war.

Viele Anhänger und Anhängerinnen Abiys hatten das gefordert. Doch schnell war absehbar, dass es mit einer einfachen Militäraktion gegen die TPLF nicht getan sein würde. Zu groß ist die Iden­tifikation der Bevölkerung Tigrays, die sich mehrheitlich aus Angehörigen der Ethnie der Tigrinier zusammensetzt, mit der TPLF; viele sehen die Soldaten der Zentralregierung, die Abiy in die Region geschickt hat, als Invasoren.

Zudem weckt der jetzige Krieg bei vielen in der Region schmerzhafte Erinnerungen. Viele Bewohner Tigrays haben im Krieg gegen Eritrea gekämpft oder Angehörige verloren. Derzeit kämpfen wieder Militär und Milizen aus Eritrea gegen Tigrinier, die äthiopische Streitkräfte unterstützen; ebenso versuchen Milizen aus der äthiopischen Region Amhara die Gelegenheit zu nutzen, um einen alten Grenzkonflikt für sich zu entscheiden und fruchtbares Land im Westen Tigrays zu besetzen. Alte Feindbilder werden reaktiviert, auch aus der östlich angrenzenden Region Afar wird von Kämpfen berichtet. Die Region verbindet die Hauptstadt Äthiopiens mit dem Hafen des Nachbarlands Djibouti.

Ein Friedensschluss zeichnet sich nicht ab, auf allen Seiten sterben Menschen, wird von Massakern und Menschenrechtsverletzungen berichtet. Straßen und Kommunikationswege werden gesperrt, internationale Organisationen warnen vor einer Hungersnot. Gegner Abiys werfen ihm eine Strategie des Aushungerns der Region Tigray vor.

Ende Juni erklärte die äthiopische Regierung einen einseitigen Waffenstillstand, Abiy zufolge, um den Bau­ern die Möglichkeit zur Aussaat zu geben. Der Ministerpräsident reagierte damit wohl auf militärische Niederlagen: Erstmals hatten TPLF-Truppen wieder die Provinzhauptstadt Mekele erreicht, die Truppen der Zentralregierung zogen sich zurück.

Die TPLF feierte das als Etappensieg. Und aus Addis Abeba hörte man, dass neue Soldaten rekrutiert werden und die Mitarbeiter der Gemeindeverwaltungen an den Haustüren klopfen, um Geld für das äthiopische Militär zu sammeln – Krieg gegen die eigene Bevölkerung per crowdfunding. Wenig überraschend flammten die Kämpfe Ende Juli wieder auf.

Abiys Rhetorik hat sich seit Beginn des Kriegs verschärft. Bereits Anfang vorigen Jahres sprach er davon, dass Unkraut ausgerissen werden müsse, ­damit der Weizen wachsen könne. Als »Unkraut« hat Abiy kürzlich die TPLF bezeichnet. Zudem hat er sie zu einer terroristischen Vereinigung erklärt, was die Aufnahme von Verhandlungen zwischen Zentralregierung und TPLF erschweren dürfte – für die allerdings auch die TPLF weitreichende Bedingungen stellte.

Als »Unkraut« bezeichnete Abiy zwar die TPLF und nicht die Ethnie der Tigrinier, doch der Jungle World wurde berichtet, dass auch außerhalb Tigrays Tigrinierinnen und Tigrinier vermehrt diskriminiert werden; die Zentralregierung nehme das zumindest häufig in Kauf. Aus Addis Abeba hieß es, Menschen würden verhaftet oder ihre Geschäfte geschlossen, wenn es den leisen Verdacht gebe, dass sie mit der TPLF oder tigrinischen Milizen in Verbindung stehen.

Viele Tigrinierinnen und Tigrinier fürchten, im restlichen Äthiopien als solche identifiziert zu werden. Aus Angst vor Übergriffen sprechen viele in der Öffentlichkeit kein Tigrinisch, andere befürchten, dass ihr Name sie als Tigrinier erkennbar macht. Ethnie und Geburtsort werden zwar inzwischen nicht mehr im Ausweis festgehalten, der Name kann jedoch Rückschlüsse auf die Herkunft ermöglichen; häufig gibt er auch Anlass zu falschen Vermutungen. Ein Straßenarbeiter, der außerhalb Tigrays lebt und zwar kein Tigrinisch spricht, aber einen tigrinischen Namen hat, sagte der Jungle World, dass er sich einen falschen Ausweis besorgt habe, um auf Reisen nicht in Schwierigkeiten zu geraten.

In weiten Teilen des Landes scheint Abiy Rückhalt zu besitzen. Am 21. Juni wurden die landesweiten Parlamentswahlen nachgeholt, Abiys neugegründete Wohlstandspartei gewann die Wahl deutlich – eine wichtige Legitimation für den kriegführenden Ministerpräsidenten. Das Ergebnis war nicht überraschend, denn mehrere Oppositionsparteien hatten die Wahl boykottiert und Tigray war von der Stimmabgabe ausgenommen.

Viele hoffen weiterhin auf eine gute wirtschaftliche Entwicklung des Landes unter Abiys Führung. Viele sind auch stolz auf die Fertigstellung des Grand Ethiopian Renaissance Dam, einer ­Talsperre am Blauen Nil, die Abiy so schnell wie möglich volllaufen lässt, was wiederholt zu Konflikten mit dem stromabwärts gelegenen Sudan und auch Ägypten geführt hat. Inzwischen haben mehrere äthiopische Regionen Truppen entsendet, um die Soldaten der Zentralregierung zu unterstützen.

In Frankfurt am Main hielt Abiy 2018 vor begeisterten Äthiopierinnen und Äthiopiern, darunter viele Angehörige der Ethnie der Oromo, die einst aus Äthiopien geflohen waren, eine ähnliche Rede wie Anfang vorigen Jahres in Südafrika. Neben der Aufforderung, zur wirtschaftlichen Entwicklung des Landes beizutragen, geht es in solchen Reden auch immer darum, die Diaspora von den eigenen politischen Zielen zu überzeugen, denn diese beeinflusst die Geschehnisse in Äthiopien aus dem Ausland. In internationalen Medien und im Internet wird um Deutungshoheit gerungen, oft greifen die Beteiligten zu Falschmeldungen. Verlässliche Informationen über Ereignisse in Äthi­opien zu bekommen, ist daher schwierig.

Auf Abiys Twitter-Kanal mischen sich Worte der Liebe und Vergebung mit ­Erfolgsmeldungen über den Staudamm. Ein Werbevideo preist die Diversität Äthiopiens, es werden Bäume gepflanzt und Parks eröffnet. Dazu gibt es Meldungen über den Krieg in Tigray und nationale Rhetorik. Ob sich Abiy jedoch wieder auf seine Reden über Zusammenhalt besinnt, nach diplomatischen Wegen sucht und die von ihm angekündigte Demokratisierung des Landes vorantreiben wird, ist unklar.