Ein Gespräch mit der Anwältin L­aritza Diversent über die Repression gegen Protestierende in Kuba

»Die Gesetze werden selektiv angewandt«

Bei den jüngsten Protesten in Kuba wurden zahlreiche Personen verhaftet, häufig wurden dabei ihre Grundrechte verletzt. Die kubanische Anwältin Laritza Diversent unterstützt mit ihrer unabhängigen juristische Beratungsorganisation Cubalex von den USA aus Angehörige von Inhaftierten und sprach mit der »Jungle World« über die Repression gegen Protestierende in Kuba, das fehlende Demonstrationsrecht und die politische Krise.
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Die Bilder der Proteste in Kuba gingen um die Welt. Gibt es Belege dafür, dass die Staatsanwaltschaft, die Polizei und die Spezialeinheiten des Innenministeriums Grundrechte der Bevölkerung verletzten?

Ja, denn die Staatsanwaltschaft verweigert den Angeklagten in den Sammelprozessen Grundrechte wie juristischen Beistand. Die Polizei hat in vielen dokumentierten Fällen die Familien nicht über den Verbleib ihrer Angehörigen informiert. Sie wussten nicht, in welchen Gefängnissen und auf welchen Polizeiwachen ihre Angehörigen von den Ordnungskräften festgehalten werden. Nicht in allen Fällen, die uns bekannt sind, aber in vielen.

Gibt es Personen, die seit den Protesten als vermisst gelten?

Ja, wir versuchen derzeit, den Aufenthaltsort von 45 Personen herauszufinden. Diese Fälle erfüllen den Tatbestand des gewaltsamen Verschwindenlassens. Die betreffende internationale Konvention (das Internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen trat am 23. Dezember 2010 völkerrechtlich in Kraft, Anm. d. Red.) hat Kuba unterzeichnet, auch wenn in den kubanischen Gesetzen das gewaltsame Verschwindenlassen nicht als Delikt sanktioniert wird.

Haben Verhaftete in Kuba das Recht auf einen Anruf bei den Angehörigen?

Formell ja, aber in vielen Fällen, die uns bekannt sind, wurde ihnen dieses Recht verweigert. Auch Besuche von Familienangehörigen sind in Gefängnissen und Polizeiwachen im Rahmen der Coronamaßnahmen nicht vorgesehen, de facto unmöglich. Immerhin wurden in einigen Fällen den Häftlingen Dinge wie Handtücher, Zahnbürsten und Hygieneartikel ausgehändigt, die ihnen Angehörige vorbeibrachten.

Dem Regierungssprecher Humberto López zufolge gibt es keine Verschwundenen in Kuba – haben Sie Beweise, die das Gegenteil belegen?

Wir haben die Zeugenaussagen von Angehörigen, die das Gegenteil behaupten. Der 11. Juli ist beispiellos in der jüngeren Geschichte Kubas. Videos, aber auch Aussagen von Polizisten belegen das Ausmaß der Verhaftungen. In etlichen Fällen haben wir über die Anwälte auf der Insel Haftprüfungsverfahren initiiert, woraufhin die Gerichte die Verhaftung einiger Personen bestätigten, aber nicht deren Aufenthaltsort bekanntgaben. Das ist nicht mit den kubanischen Gesetzen vereinbar.

»Die Anmeldung einer Demonstration ist in Kuba formell gar nicht möglich – das ist eine rechtliche Grauzone.«

Es gibt eine ganze Reihe von Fällen, die den Tatbestand des gewaltsamen Verschwindenlassen laut der internationalen Konvention erfüllen. Artikel 1 der Konvention besagt, dass ein Fall gewaltsamen Verschwindenlassens vor­liegt, wenn die Polizei oder die Ordnungskräfte des jeweiligen Landes angeben, dass sie keine Informationen über den Aufenthaltsort eines Verhafteten haben, obwohl das Gegenteil der Fall ist. Videos, die wir von Familienangehörigen erhalten haben, belegen genau das. Ein Verstoß gegen die Konvention liegt auch dann vor, wenn die Behörden und Ordnungskräfte des jeweiligen Landes zwar bestätigen, dass die jeweilige Person verhaftet wurde, aber nicht deren Aufenthaltsort preisgeben. Hinzu kommt, dass die Behörden in vielen Fällen die Verhafteten befragten, ob sie Geld aus dem Ausland erhalten haben, um an den Demons­trationen teilzunehmen. Die Verhafteten gehen das Risiko ein, sich selbst zu belasten, wenn sie auf die Frage antworten.

Berichten zufolge wurden auch Minderjährige festgenommen und inhaftiert. Wissen Sie von konkreten Fällen?

Ja, uns liegen Aussagen von Angehörigen vor, dass elf Jugendliche zwischen 15 und 17 Jahren inhaftiert wurden und dass ihnen das Recht verweigert wurde, ihre Angehörigen zu ­informieren. Ich habe gerade mit einem Fall zu tun, in dem uns eine Mutter die Verhaftung ihres 16jährigen Kindes wegen der Teilnahme an einer Demonstration am 11. Juli angezeigt hat.

Wie überprüfen Sie derartige Informationen?

Wir sind eine Nichtregierungsorganisation, die direkt mit den Familien von in Kuba verhafteten und angeklagten Personen arbeitet. Die kubanische Regierung hat bisher keine Angaben über die Zahl der Verhaftungen gemacht, deshalb stützen wir uns auf Angaben der Familien, veröffentlichen die Daten – darunter Foto, Ausweisnummer, Alter, Personalangaben – auf unserer Homepage und ergänzen diese Daten mit Informationen aus den sozialen Medien. Anhand dieser Daten können die staatlichen Behörden die Vermissten ausfindig machen und die Angehörigen über deren Aufenthaltsort informieren – wenn sie denn wollen.

Von wie vielen Verhaftungen wissen Sie derzeit?

Auf unserer Liste (Stand: 3. August, Anm. d. Red.) befinden sich die Namen von 761 Verhafteten, davon sind 548 weiterhin in Haft und 213 aus der Haft zumindest vorübergehend entlassen worden. Zudem haben wir 45 Fälle regis­triert, in denen der Aufenthaltsort der Vermissten bisher nicht ermittelt werden konnte – sie gelten als gewaltsam Verschwundene. Überdies haben wir elf Fälle von inhaftierten Jugendlichen unter 18 Jahren – davon sind zwei erst 15 Jahre alt und acht weiterhin in Haft.

Haben die Verhafteten in Kuba das Recht auf juristischen Beistand?

So steht es in den Gesetzen und auch in der Verfassung. Doch dieses Recht wird den Verhafteten nicht gewährt. Es gibt mehrere Fälle, in denen Angeklagten in Sammelprozessen das Recht auf einen Anwalt vorenthalten wurde.

Ein international bekannt gewordener Fall ist jener des Fotografen Anyelo Troya. Er wurde seiner Familie zufolge im Rahmen der Proteste in einem Sammelprozess ohne Rechtsbeistand zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr wegen der »Störung der öffentlichen Ordnung« verurteilt. Ist dies ein Einzelfall?

Nein. Den Aussagen der Familie zufolge hat Anyelo Troya nicht an den Demonstrationen teilgenommen, sondern sie nur dokumentiert – mit seiner ­Kamera. Unserer Einschätzung zufolge wenden die Behörden die Gesetze selektiv an und sie verletzten das Demonstrationsrecht, das in der Verfassung garantiert ist. Es gibt in Kuba aber keine Regelungen, wie man sein Recht auf Versammlungsfreiheit, das Recht zu demonstrieren, wahrnehmen kann. Die Anmeldung einer Demons­tration ist in Kuba formell gar nicht möglich – das ist eine rechtliche Grauzone. Während Kundgebungen für die Regierung regelmäßig organisiert werden, sind Demonstrationen gegen sie schlicht nicht vorgesehen, die Teilnahme wird als »Störung der öffentlichen Ordnung« sanktioniert. So wird das friedliche Demonstrieren, wie am 11. Juli geschehen, kriminalisiert.

Doch es wurde nicht nur friedlich demonstriert, wie Bilder umgeworfener Polizeiwagen belegen.

Das ist richtig. Es kam zu Gewalt, die unserer Einschätzung zufolge allerdings von den Ordnungskräften ausging. Wir wissen von keinem Fall, in dem gegen einen Polizeibeamten wegen der Anwendung von Gewalt ermittelt wurde – es gibt aber zahlreiche Videos und Fotos, die genau das belegen. Noch einmal: Die Gesetze werden selektiv angewandt.

Einer Mitarbeiterin der regierungskritischen Online-Zeitung 14ymedio, Luz Escobar, wurde das Verlassen ­ihrer Wohnung für insgesamt 17 Tage verboten – gibt es dafür eine Rechtsgrundlage?

Nein, das kubanische Strafgesetzbuch kennt zwar den Begriff der »häuslichen Haft«, aber die ist nur nach offizieller Anklageerhebung vorgesehen. ­Zudem sieht diese »häusliche Haft« nicht vor, dass die betroffene Person überwacht und am Verlassen der ­eigenen Wohnung gehindert wird. Im konkreten Fall von Luz Escobar liegt keine Anklage vor, obendrein ist es nicht das erste Mal, dass sie daran gehindert wird, ihre eigene Wohnung zu verlassen. Das ist vom Recht nicht gedeckt.

Trotzdem scheint diese Form der »häuslichen Haft« seit Monaten ­gegen etliche Kritikerinnen und Kritiker der Regierung angewandt zu werden.
Wir wissen von rund 120 Fällen, in denen das in den vergangenen Monaten der Fall war – für einige Tage, aber auch für Wochen. Luz Escobar ist ein besonders gravierendes Beispiel. Dafür wenden die Behörden zudem Ressourcen auf, die sonst sehr knapp sind – angesichts der schlechten ökonomischen Situation Kubas ein weiterer Widerspruch.

Sehen Sie die Chance, diese ernste politische Krise friedlich beizulegen?

Das hängt vor allem vom politischen Willen der kubanischen Regierung ab. Ohne einen echten Dialog zwischen Regierung und Zivilgesellschaft ist das kaum vorstellbar.

 

Laritza Diversent ist Anwältin und hat 2010 in Kuba die unabhängige juristische Beratungsorganisation Cubalex gegründet. Im September 2016 beschlagnahmten ­Beamte des kubanischen Innenministeriums Computer und Unterlagen. Daraufhin emigrierten Diversent und ihr Team in die USA. Heute berät Cubalex von Pennsylvania aus kubanische Anwälte und Angehörige von Verhafteten. Zudem recherchiert die Organisation zum Verbleib derjenigen, die im Rahmen der Proteste seit dem 11. Juli (Die Unzufriedenheit explodiert) verhaftet wurden.