Kampf um die Bratwurst

»Das ist der Wurstgeruch der Freiheit«

Vegetarier bringen die VW-Kantine unter ihre Kontrolle.
Die preisgekrönte Reportage Von

»Der Kampf ist verloren, wir haben versagt«, sagt Martin Kriesel traurig. »Wir müssen die Menschen hier sich selbst überlassen. Wie es weitergeht, ist noch völlig ungewiss.« Kriesel klappt den Tapetentisch zusammen, rollt seine Plakate ein. »Fleisch ist ein Stück Lebenskraft« steht darauf. In einem kleinen Rollköfferchen verschwinden die Probeexemplare der Fleischwirtschaft, dem Magazin der knorpelmasseverabeitenden Industrie.

Seit zehn Tagen hat Kriesel, der für den Lobbyverband arbeitet, an seinem Stand ausgeharrt, hier, vor der VW-Kantine am Standort Kleinsaltzung. Hat Mitarbeitende agitiert, verschenkte kleine Dosen mit eingemachter Leberwurst. Umsonst: Die interne Weisung des Volkswagen-Konzerns, nach den Betriebsferien alle Fleischgerichte durch vegetarische Alternativen zu ersetzen, bleibt bestehen. Sogar ein Machtwort von ­Ex-Kanzler Gerhard Schröder, der anmahnte, sich Wurst als »Kraftkolben« in die Goschen zu schieben, blieb ungehört. Nun gibt sich Kriesel geschlagen: »Wir haben die Macht des Vegetarismus unterschätzt.«

Die Mitarbeiter nehmen es hin. Aus Überzeugung? Oder haben sie sich mit den neuen Verhältnissen arrangiert? »Eigentlich ganz froh« sei er, sagt ein Kollege, der anonym bleiben will. »Die Leute haben so schreckliche Klischeeerwartungen an uns Montagearbeiter. Tag und Nacht Currywurst, erstes Bier um vier, sexistische Sprüche. Viele von uns haben sich einen Schnauzer wachsen lassen, nur um den sozialromantischen Erwartungen von Alt-SPDlern entgegenzukommen. Dabei bin ich queer und vegan. Und ich kenne viele, denen es genauso geht.«

Doch die Betriebskantine ist Schauplatz eines beispiellosen Kulturkampfs. Abgeordnete von CDU, SPD und Linkspartei reisen an, um sich mit den Fleischessern, die sie in der Belegschaft vermuten, zu solidarisieren. »Wenn uns Konzerne den Willen von skurrilen Ernährungsminderheiten aufzwingen, läuft etwas schief«, teilt Sahra Wagenknecht per Insta-Pic von einem Hummerbüfett mit. Die Landesregierung Nordrhein-Westfalens konnte über Kontaktmann Joe Laschet bereits 15 Tonnen gemischtes Tönnies-Hack nach Kleinsaltzung einfliegen – nun verrottet das Billigfleisch vor den Toren von VW. »Das ist der Wurstgeruch der Freiheit«, sagt Kriesel. »Wer ihn nicht erträgt, soll sich die Nase zuhalten. Und sie nicht so hoch tragen!«

 

Aus der Urteilsbegründung: Leo Fischers preisgekrönte ­Reportagen sind in hohem Maße fiktiv. Ähnlichkeiten mit realen Personen und Geschehnissen sind unbeabsichtigt.