Die Bundesregierung lässt die afghanische Bevölkerung im Stich

Katastrophe mit Ansage

Die Bundesregierung gibt sich überrascht, doch die Machtübernahme der Taliban war vorherzusehen. Die lokalen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr überlässt sie größtenteils ihrem Schicksal.

Am Sonntag haben die Taliban Kabul eingenommen. Pessimistische Einschätzungen waren davon ausgegangen, dass die Taliban zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September in Kabul stehen könnten. Nun ging es noch viel schneller. Unionskanzlerkandidat Armin Laschet (CDU) spricht mit Blick auf die Machtübernahme der Taliban von einer »humanitären Katastrophe« – doch es war eine vorhersehbare Kata­strophe, auf die man sich hätte vorbereiten können. Es darf bezweifelt werden, dass die Bilder aus dem Land in drei bis vier Wochen grundlegend andere gewesen wären. Expertinnen und Experten haben eine solche Situation vorhergesagt, sie trat nur schneller ein als befürchtet. Ihre Warnungen wären wohl noch vier weitere Wochen in den Wind geschlagen worden, man hätte dann eben vier Wochen später von der humanitären Katastrophe schwadroniert.

An dem Tag, an dem sich Menschen am Flughafen in Kabul aus lauter Verzweiflung an startende Flugzeuge klammerten, sagte Armin Laschet: »2015 darf sich nicht wiederholen.«

Das Versagen der »internationalen Gemeinschaft« und damit auch Deutschlands ist so umfassend, dass den Verantwortlichen nichts bleibt, als es einzugestehen. In Pressekonferenzen am 16. August räumten sowohl Außenminister Heiko Maas (SPD) als auch Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein, dass die Bundesregierung die Situation falsch eingeschätzt habe. Maas sagte, Deutschland werde nichts unversucht lassen, so viele Menschen wie möglich aus Afghanistan auszufliegen.

Der frühere Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestags, Hans-Peter Bartels (SPD), warf dem Verteidigungs­ministerium vor, zu spät mit den Evakuierungsflügen begonnen zu haben. »Wenn man am Freitag ankündigt, A400M-Transportmaschinen nach Kabul schicken zu wollen, dann darf die erste nicht erst am Montag starten«, sagte er der Neuen Osnabrücker Zeitung und nannte die Entwicklung in Afghanistan »eine Tragödie mit An­sage«. So hat die Bundesregierung offenbar nicht nur die Warnungen von externen Expertinnen und Experten ignoriert, sondern auch die des eigenen diplomatischen Personals. Wie das ARD-Hauptstadtstudio berichtete, hat der stellvertretende deutsche Botschafter Hendrik van Thiel schon am Freitag in seinem Lagebericht kritisiert, »dass den dringenden Appellen der Botschaft über längere Zeit erst in dieser Woche Abhilfe geschaffen« worden sei. Er betonte: »Wenn das an irgendeiner Stelle diesmal schiefgehen sollte, so wäre dies vermeidbar gewesen.«

Nun sind sich alle bis hin zur AfD einig, dass man sogenannte Ortskräfte aus Afghanistan ausfliegen und aufnehmen sollte. Das forderten Flüchtlingsorganisationen schon länger, und verstärkt, seit klar ist, dass die internationalen Truppen abziehen. In Wahlkampfzeiten stellt dies nun den Minimalkonsens dar: Menschen, die ihr Leben für die Bundeswehr riskiert haben, nicht auf­zunehmen, könnte Stimmen kosten. Alles darüber hinaus aber auch.

Doch selbst für Ortskräfte und diplomatisches Personal könnte es nun zu spät sein. Eine Evakuierung ist nur vom Kabuler Flughafen aus möglich. Dort herrschen chaotische Zustände, zeitweise konnten Flugzeuge nicht landen und Tausende Menschen versuchen verzweifelt, das Land zu verlassen. Berichten zufolge werden bei Checkpoints der Taliban in Kabul nur noch Ausländer zum Flughafen durchgelassen.

Die von Bundeswehrangehörigen getragene NGO »Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte« setzt sich dafür ein, Ortskräfte nach Deutschland zu holen. Am Dienstag musste sie die zwei von ihr betriebenen sogenannten Safehouses, in denen sich mehr als vierhundert Personen versteckt hielten, schließen, »denn sie wurden langsam zu Todesfallen. Die Taliban gehen von Tür zu Tür und suchen nach unseren Ortskräften«, sagte Marcus Grotian, der Gründer der NGO, dem ZDF. Die Ortskräfte hätten sich bereits »mindestens acht bis zehn Wochen in Kabul auf­gehalten, weil sie die Hoffnung hatten, dass sie dort einen Weg in die Freiheit finden können«. Allerdings habe in diesen Wochen »nicht ein einziges Visaverfahren« für Ortskräfte der Bundeswehr stattgefunden. »Das Perfide ist«, so Grotian weiter, dass das Ortskräfteverfahren »nur in Afghanistan ge­startet werden« könne. »Wenn man ins Nachbarland flieht, dann ist man nicht mehr antragsberechtigt.«

Auf Nachfrage der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung nach dem verschleppten Visaverfahren für Ortskräfte ließ sich ein Sprecher des Verteidigungsministeriums folgendermaßen zitieren: »Ist ja nicht so, dass wir sie gezwungen haben, mit uns zusammenzuarbeiten.«

Eine frühere Evakuierung hätte die Ortskräfte und ihre Angehörigen ­retten können. Die Grünen stellten bereits am 23. Juni einen Antrag im Bundestag, die betroffenen Personen unbürokratisch in Sicherheit zu bringen. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Thorsten Frei (CDU), bestritt in der damaligen Debatte über den Antrag, dass man allein wegen einer ­Tätigkeit für die Bundeswehr von Gefährdung ausgehen könne – schließlich kontrollierten die Taliban nur wenige Distrikte. Nur die Linkspartei stimmte mit den Grünen für den Antrag, so dass er keine Mehrheit fand. Dass der CDU-Bundestagsabgeordnete Roderich Kiesewetter nun auf Twitter äußert, dass es ein Fehler war, den Antrag aus Prinzip abzulehnen, hilft den Menschen in Afghanistan nicht mehr.

Wie glaubwürdig die Beteuerungen der Bundesregierung sind, nun, da die Dramatik der Lage nicht mehr zu leugnen ist, so viele Menschen wie möglich aus Afghanistan auszufliegen, zeigte sich Montagnacht, als die erste Transportmaschine der Bundeswehr schließlich in Kabul landen konnte – und exakt sieben Personen ausflog. Ein US-amerikanisches Flugzeug war kurz zuvor mit 640 Menschen an Bord gestartet, da die Verantwortlichen keine ­Zivilistinnen und Zivilisten zwingen wollten, die überfüllte Maschine wieder zu verlassen.

So beschränkt sich die anlaufende deutsche Hilfe wohl maximal auf die Evakuierung der Ortskräfte, vorausgesetzt, diese schaffen es zum Flughafen in Kabul. Alle anderen, die Afghanistan verlassen wollen, dürfen nicht mit ­Unterstützung von maßgeblichen deutschen Politikern rechnen. An dem Tag, an dem sich Menschen am Flughafen in Kabul aus lauter Verzweiflung an startende Flugzeuge klammerten und dann einige offenbar in den Tod stürzten, sagte Armin Laschet: »Ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann.« Weiter betonte er: »2015 darf sich nicht wiederholen.« Die EU müsse sich darauf vorbereiten, dass es Flüchtlingsbewegungen geben könnte. Laschet sprach sich für Hilfe vor Ort und in den Nachbarländern aus. Ob er eine Vorstellung davon hat, was es für Frauen, queere Menschen oder auch Journalisten bedeutet, in den Iran oder Pakistan fliehen zu müssen, darf bezweifelt werden.

Selbst jene, die schon vor der Machtübernahme der Taliban nach Deutschland geflohen waren, befanden sich lange nicht in Sicherheit. Das Innenministerium hatte erst am Mittwoch vergangener Woche Abschiebungen nach Afghanistan offiziell ausgesetzt. Noch am Mittag desselben Tages hatte ein Sprecher zum Thema ausreisepflichtiger Menschen aus Afghanistan mitgeteilt, das Ministerium sei »weiterhin der Auffassung, dass es Menschen in Deutschland gibt, die das Land verlassen sollten, so schnell wie möglich.« Es bezog sich dabei auf den Asyllagebericht des Auswärtigen Amts. Dessen Einschätzung der Sicherheitslage bezog sich aber auf die Zeit vor dem Abzug der internationalen Truppen. Der Bericht stellte zudem keine generelle Gefährdung von Rückkehrerinnen und Rückkehrern fest.

Einer gemeinsamen Studie von Diakonie und Brot für die Welt zufolge sind aus Deutschland abgeschobene Personen aber sehr wohl der Verfolgung durch die Taliban ausgesetzt. Ihnen werde wegen der Flucht nach Europa Verrat und Verwestlichung vorgeworfen (Vorrangige Abschiebung). Die ­afghanische Regierung hatte schon längst um einen Abschiebestopp ge­beten, Innenminister Horst Seehofer (CSU) war erst am 11. August darauf eingegangen – wie so oft dieser Tage kam die Entscheidung viel zu spät. Die aktuelle Situation in Afghanistan macht überdeutlich, was Flüchtlings­organisationen seit Jahren betonen: deutsche Bürokratie tötet.

Auch von den deutschen Oppositionsparteien können sich die Menschen in Afghanistan nicht viel erhoffen. Die Kanzlerinnenkandidatin der Grünen, Annalena Baerbock, fordert immerhin die Aufnahme von Kontigentflüchtlingen. Wie ernst es den Grünen mit dem Schutz von Geflüchteten noch ist, sobald sie Regierungsverantwortung tragen, kann man allerdings gut in Baden-Württemberg beobachten. Die grüne Landesregierung hat nicht nur die Einstufung sämtlicher Balkanstaaten als angeblich »sicherere Herkunftsstaaten« ermöglicht, sondern auch mindesten 82 Menschen nach Afghanistan abgeschoben.

Und die Linkspartei? Ihre ewige Forderung »Nato raus aus Afghanistan« ist nun erfüllt. Dazu schrieb Bijan Tavassoli, Mitglied der Hamburger Linkspartei, auf Twitter: »Das afghanische Volk hat seine Freiheit und Souveränität zurück.« Dabei hält er die Todesstrafe für »Kollaborateure« für nachvollziehbar. Die Hamburger Linksfraktion bezeichnete den inzwischen gelöschten Post als zynisch und dumm. Dabei mag Tavassolis Aussagen eine Zuspitzung antiimperialistischen Schablonendenkens sein, in abgeschwächter Form ist Ähnliches aber häufiger zu hören: Hauptsache, die USA sind weg! Gregor Gysi schlug noch am 12. August als Strategie für Afghanistan vor, den Taliban Hilfsangebote zu unterbreiten und diese an Bedingungen zu knüpfen. »Man muss zurückkehren zu Außenpolitik und Diplomatie«, erklärte der außenpolitische Sprecher der »Linksfraktion« im Bundestag.