Die rechtsextreme Mutation
Darum, wer die derzeit populärste Partei Italiens ist, konkurriert eine weit rechts stehende mit einer noch weiter rechts stehenden: Meinungsumfragen von Ende Juli weisen die von Giorgia Meloni geführten Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) als stärkste Partei aus. Die Erben der faschistischen Tradition haben der von Matteo Salvini geführten souveränistischen Partei Lega den Rang abgelaufen. Der Vorsprung ist nur minimal, beide Parteien liegen mit circa 20 Prozent fast gleichauf. Solange die beiden Konkurrenten bei Wahlen weiterhin gemeinsam mit der auf unter zehn Prozent abgerutschten rechtsliberalen Forza Italia von Silvio Berlusconi ein sogenanntes Mitte-rechts-Bündnis bilden, droht in Italien eine von den Ultrarechten geführte parlamentarische Mehrheit.
Staatssekretär Claudio Durigon (Lega) schlug vor, der Stadtpark von Latina solle nach Arnaldo Mussolini, dem jüngeren Bruder des »Duce«, benannt werden.
Die Fratelli profitieren derzeit von ihrem Status als Oppositionspartei. Weil sie im Frühjahr der alle sonstigen größeren Parteien umfassenden Regierungskoalition von Ministerpräsident Mario Draghi nicht beigetreten sind, müssen sie sich nicht für Kompromisse mit den politischen Gegnern rechtfertigen. Das stärkt das Ansehen ihrer Vorsitzenden.
Giorgia Meloni wurde in der römischen Jugendorganisation des von Altfaschisten geprägten Movimento Sociale Italiano (MSI) sozialisiert. Als sich die Bewegung Mitte der neunziger Jahre in Alleanza Nazionale (AN) umwandelte und ihren Ruf verbesserte, machte Meloni in der Partei Karriere, fühlt sich aber erkennbar dem nostalgischen Flügel verbunden, auch als sie von 2008 bis 2011 als Ministerin für Jugend und Sport amtierte.
Nach einer Phase, in der die AN mit Berlusconis Forza Italia fusioniert hatte, fanden sich führende Parteikader als Fratelli d’Italia neu zusammen, konnten aber zunächst mit der Lega nicht konkurrieren, die sich zur selben Zeit von einer separatistischen regionalen Partei zur nationalchauvinistischen rechten Partei entwickelte. Meloni blieb lange im Schatten Salvinis. Doch in den vergangenen Monaten hat der selbsternannte »Capitano« an Strahlkraft verloren: Auf Druck der norditalienischen Parteibasis musste er seine EU-feindliche Propaganda zügeln und einer Beteiligung der Lega an Draghis Einheitsregierung zustimmen.
Meldungen, wonach Salvini mit dem mittlerweile von Alter und Krankheit geschwächten, knapp 85jährigen Berlusconi über die Möglichkeit einer »Föderation« der Forza Italia mit der Lega beraten habe, bezeugen die Nervosität des Lega-Vorsitzenden: Durch einen Zusammenschluss der beiden Parteien oder die Bildung einer gemeinsamen Parlamentsfraktion wäre für den Fall vorgebeugt, dass die Fratelli bei kommenden Wahlen so stark abschneiden wie jetzt bei den Umfragen, und Salvini könnte seinen Führungsanspruch innerhalb des rechten Bündnisses behaupten.
Die Zweifel an Salvini mehren sich zwar, aber koalitionsinterne Rivalitäten und taktische Positionierungen zwischen Regierungsbeteiligung und charakterisieren das Mitte-rechts-Bündnisses seit jeher. Sie fesseln die Aufmerksamkeit des Publikums und haben dem Bündnis bei Wahlen nur selten geschadet. Je nach Region und politischer Stimmungslage werden die vermeintlich unvereinbaren wirtschaftsliberalen und nationalchauvinistischen Ausrichtungen der Bündnispartner betont. Darüber hinaus werden seit jeher auch außerparlamentarische neofaschistische Bewegungen wie Casa Pound und Forza Nuova eingebunden. Solange später alle vom angestrebten Wahlerfolg profitieren, ist die Parteizugehörigkeit nur noch selten eine Frage der vielbeschworenen »Ehre«, sondern purer Opportunismus.
Das belegen derzeit der Kommunalwahlkampf in der mittelitalienischen Region Latium und der Eklat, den Claudio Durigon, der Staatssekretär der Lega im Wirtschaftsministerium, provoziert hat. Anfang August trat dieser zusammen mit Salvini auf einer Wahlkampfveranstaltung in der Kreisstadt Latina auf. Am Ende seiner Rede schlug er vor, dem Stadtpark seinen alten Namen zurückzugeben: Er solle nicht länger nach den 1992 von der Cosa Nostra ermordeten Antimafia-Richtern Giovanni Falcone und Paolo Borsellino benannt werden, sondern wieder nach Arnaldo Mussolini, dem jüngeren Bruder des »Duce«. Dessen Regime diente er als Leiter der von der faschistischen Partei herausgegebenen Tageszeitung Il Popolo d’Italia. Durigon, 1971 in Latina geboren, wollte seinen Vorschlag nicht als »Hymne auf den Faschismus« verstanden wissen, vielmehr als Ausdruck seiner Heimatverbundenheit, denn »das ist die Geschichte von Latina, die jemand mit dem Namenswechsel auslöschen wollte«.
Die Geschichte der Provinzhauptstadt mit heute etwa 130 000 Einwohnern begann in den dreißiger Jahren mit der Trockenlegung der Sumpfgebiete in der Pontinischen Ebene südlich von Rom, aus der das Regime Prestige bezog. Im Zuge der Urbarmachung entstand das Küstenstädtchen Littoria, benannt nach dem faschistischen Parteisymbol zusammengeschnürter Ruten, dem Liktorenbündel. Nach dem Sturz Benito Mussolinis wurden die faschistischen Ortsnamen geändert. Die Stadt hieß fortan Latina, hing aber nostalgisch an ihrer Vergangenheit und konnte sich mit der Umbenennung ihres Stadtgartens in Parco Comunale nie abfinden.
In den neunziger Jahren trat der Revisionismus offen zu Tage: Eine noch vom MSI geführte Stadtverwaltung ließ Schilder mit dem Namen »A. Mussolini« anbringen. Außerdem erhielt ein Kreisverkehr 2014 den Namen des MSI-Gründers Giorgio Almirante. Als der Parco Comunale 2017 auf Initiative der damaligen Stadtverwaltung in »Parco Falcone e Borsellino« umbenannt wurde, protestierten Neofaschisten mit »Duce, Duce«-Rufen gegen die Einweihung.
An diesen Teil der Bürgerschaft war Durigons Rede auf der Wahlveranstaltung gerichtet; er sollte wissen, dass der Kandidat des rechten Bündnisses »die Wurzeln der Stadt« respektieren würde. Dort bewirbt sich der ehemalige Bürgermeister Vincenzo Zaccheo, der für die AN bereits zwischen 2012 und 2010 Stadtoberhaupt war, erneut für dieses Amt. Zaccheo kommt ursprünglich aus dem MSI und kandidiert nun auf Vorschlag der Lega mit Unterstützung ehemaliger militanter Kameraden von der Forza Nuova.
In der Region Latium finden die verschiedenen Fraktionen der extremen Rechten zusammen: MSI-Veteranen, Neo- und Postfaschisten, Souveränisten und einfache Karrieristen. Die Wortschöpfung fascioleghista steht für die Flexibilität, die Politiker wie Durigon bei der Parteizugehörigkeit an den Tag legen. Der begann seine politische Laufbahn in der nationalistischen Gewerkschaft UGL, arbeitete einige Jahre für eine von Postfaschisten geprägte Regionalregierung des Latium in Rom und schloss sich 2017, als sich der Aufstieg Salvinis zum erfolgreichsten Rechtspopulisten abzeichnete, der Lega an. Sollte in den kommenden Monaten Meloni in der Wählergunst dauerhaft vor Salvini liegen, werden die fascioleghisti bei nächster Gelegenheit wohl wieder unter dem Parteisymbol der Fratelli kandidieren. Denn jenseits aller persönlichen Eitelkeiten und Ambitionen überwiegen die Gemeinsamkeiten: neben der Nostalgie für den Faschismus vor allem eine ultranationalistische, erzkatholische Familien- und Sozialpolitik.
Durigon konnte mit seinen gewerkschaftlichen Verbindungen der Lega bei ihrer Verankerung im Süden des Landes zu Diensten zu sein. Dafür wurde er mit der Ernennung zum Staatssekretär belohnt, zunächst im Arbeits-, dann im Wirtschaftsministerium, wo er noch immer tätig ist. Dieses einflussreiche Amt kann dem fascioleghista nicht per Misstrauensantrag entzogen werden. Ein von der Demokratischen Partei, dem Movimento 5 Stelle und der kleinen Fraktion der linken Liberi e Uguali (Freie und Gleiche) für September angekündigtes Misstrauensvotum im Parlament hätte allein symbolischen Charakter. Durigon kann nur zurücktreten oder von Draghi abberufen werden.
Doch der Ministerpräsident schweigt. Auch auf einen offenen Brief des Präsidenten der Partisanenvereinigung ANPI, Gianfranco Pagliarulo, der die Abberufung Durigons aus Respekt für die antifaschistische Verfassung einforderte, reagierte er nicht. Sollte Durigon im Herbst dennoch abgelöst werden, dann wohl eher aufgrund des parteiinternen Drucks der leghisti im Norden, die von Salvinis Übereinkunft mit den fascisti des Südens nie überzeugt waren und Letztere gerne Melonis Fratelli überlassen würden.