Der Dokumentarfilm »Freakscene« über die Noise-Pop-Band Dinosaur Jr.

Profane Dinosaurier

Im Dokumentarfilm »Freakscene« über Dinosaur Jr. geht es weder nostalgisch zu, noch werden die Musiker als Helden ­inszeniert – vielmehr nutzt »Freakscene« Nebensächlichkeiten, um die Band­geschichte zu erhellen.

Am Anfang steht das weiße Rauschen. Im Hintergrund hallen Feedback-Schnipsel, langsam erscheint das aus einem fahrenden Auto aufgenommene Bild, das eine verschneite Winterlandschaft zeigt. Eine verschlafen wirkende Stimme aus dem Off spricht über das Verhältnis zur Vergangenheit. Diese Stimme gehört J Mascis, dem Sänger der Band Dinosaur Jr., um die der Dokumentarfilm »Freakscene« von Philipp Reichenheim (dem Sohn der Lebensgefährtin von Mascis) kreist. Mascis äußert den Gedanken, dass er sich nicht erinnern könne, wie es sich in der Vergangenheit angefühlt hat. Nostalgie und Retromanie, das wird schon am Anfang deutlich, wird man in diesem kleinen, unaufgeregten Film nur sehr schwer finden.

Dinosaur Jr. waren eine der wichtigsten Noise-(Pop-)Bands der achtziger und neunziger Jahre und stammten aus dem Zirkel des mittlerweile sagenumwobenen Labels SST, auf dem unter anderem Sonic Youth, Hüsker Dü und Minutemen veröffentlichten und das prägend für den Gitarren-Underground der Achtziger war. Der Film zeichnet über zeitgenössische (Film-)Dokumente und Interviews mit Freunden und Angehörigen der Szene die Entwicklung der Band nach.

Immer wieder verkoppelt Regisseur Reichenheim die komischen Videos und Live-Auftritte von Dinosaur Jr. mit dem heutigen Leben der Zeitzeugen und den Erzählungen der Bandmitglieder.

Die Vorgänger-Band von Dinosaur Jr., in der Mascis und Bassist Lou ­Barlow zusammenspielten, hieß Deep Wound, veröffentlichte 1983 eine EP und bot eine Art von Hardcore, der teilweise schon nach Grindcore klingt. Die Formen und Inhalte des Hardcore (immer schneller und lauter, immer sloganhafter und politisch-moralischer musste es sein) erschöpften sich allerdings bald für Barlow und Mascis, die 1984 dann mit Emmett Jefferson Murphy III (oder einfach: Murph) am Schlagzeug Dinosaur gründeten.

1985 brachte die Band ihr erstes Album heraus, das auch »Dinosaur« betitelt war. 1987 musste sie ihrem Namen das »Jr.« hinzufügen. Die Retrorock-Supergruppe The Dinosaurs, in der sich Größen der Szene von San Francisco der späten Sechziger zusammengefunden hatten, war durch den Erfolg des in jenem Jahr erschienenen zweiten Albums »You’re Living All Over Me« auf Mascis und Co. aufmerksam geworden. Schon hier holte die (musikalische) Vergangenheit Dinosaur Jr. ein, auf die sie sich nach ihrer Hardcore-Phase wie kaum eine andere Band dieser Zeit bezogen.

Als Einflüsse benannten sie Südstaaten-Rock und die Musik der counter culture der späten sechziger und frühen siebziger Jahre. Das war zu jener Zeit in dem akademisch geprägten Underground-Milieu im Universitätsstädtchen Amherst, Massachusetts, in dem die Bandmitglieder lebten, alles andere als angesagt. Doch Dinosaur Jr. schafften es, dieser Vergangenheit nicht einfach nur zu huldigen, sondern die Tradition und den Bruch mit ihr – durch die Lautstärke und Aggressivität des Hardcore – zu etwas Unbekanntem und Neuem zu verschmelzen. Darin waren sie dem britischen Shoegaze jener Zeit verwandt, der gleichfalls schönste Popmelodien im Stil der psychedelischen Ära unter einer Lawine von Geräuschen verbarg, ­wodurch Zärtlichkeit und Brutalität eine eigenartige Synthese eingingen.

Nach dem noch etwas disparaten ersten Album brachte »You’re Living All Over Me« den Durchbruch; darauf folgte 1988 »Bug«, das mit dem filmtitelgebenden Song »Freakscene« eröffnet. Beide Alben gelten inzwischen als Klassiker. Doch die internen Spannungen nahmen zu und Bassist Barlow verließ nach »Bug« die Band, um sich eigenen Projekten zu widmen (unter anderem seiner Band Sebadoh und Film-Soundtracks).

Mascis und Murph machten noch bis Ende der neunziger Jahre unter dem Namen Dinosaur Jr. mit weiteren, wechselnden Bandmitgliedern gute Musik, die auch Liebhaber und Käufer fand. Mit der Krise der Musikindustrie – die durch die Online-Tauschbörse Napster endgültig akut wurde – und sich verschärfende Konflikte zwischen Mascis und Murph löste sich die Band auf. 2005 reformierte sie sich in der Originalbesetzung und veröffentlichte seither vier solide Alben.

Das alles zeichnet Reichenheims Film in einer Form nach, die man mit Walter Benjamin als »profane Erleuchtung« fassen könnte. Der Begriff beschreibt, wie dem Individuum im Alltäglichen und seiner Beschreibung seine eigene durch das Kollektiv geprägte Erfahrung zu Bewusstsein gelangt, seine zweite Natur, die Anpassung seiner selbst an die Gesellschaft und ihre Vorstellungen. Nicht Religion oder Rausch offenbaren als Ausnahmezustände eine andere, freiere Art der Vergesellschaftung, sondern Nebensächlichkeiten, die zu einer Irritation führen und darüber zur Erkenntnis der (falschen) Strukturen. Benjamin sah dieses Konzept besonders im französischen Surrealismus künstlerisch verwirklicht.

Surreale, in den Alltag verwobene Momente lassen sich auch im Œuvre von Dinosaur Jr. sowie in Reichenheims Film finden. Immer wieder verkoppelt Reichenheim die komischen Videos und Live-Auftritte der Band mit dem heutigen Leben der Zeitzeugen und den Erzählungen der Bandmitglieder. Traumwandlerisch und gleichzeitig enorm wach und treffend wirken deren Auftritte und Erzählungen.

Zum Beispiel die Geschichte darüber, wie sich Mascis, nachdem er die Band mit Murph bis 1997 weiterbetrieben hatte, dem Hinduismus zuwendete. Das wird aber nicht als Selbstfindungsgeschichte erzählt, nicht missionarisch gewendet oder gegen die westliche Aufklärung gerichtet. Der Einfluss wird dem Zuschauer viel stärker über Songs von Mascis vermittelt, die er solo aufnahm. Das Übel, das die Verwurstung von fernöstlicher Religion und Philosophie in westlichen New-Age-Diskursen birgt, ist so verhindert. Hier wird das Handeln des Künstlers nicht als vorbildlich und handlungsanleitend präsentiert (wie man es beispielsweise an den Reisen der Beatles nach Indien und deren Inszenierung kritisieren könnte), sondern es wird mit einer Beiläufigkeit erzählt, die kritische Reflexion provoziert. Ebenso wirken die Eingeständnisse des Schlagzeuger Murphs in Bezug auf Drogensucht, Band und Familie.

Ferner scheint im Film eine Art Humor auf, der sich nicht im konkreten Reden oder Handeln der Bandmitglieder äußert, sondern in subtiler, achselzuckender Ironie, unter anderem dann, wenn in dem Video zum Song »Over It« die nicht mehr ganz jungen Mascis, Murph und Barlow ein Skatefest abliefern und man erkennt, dass die Tricks von Doubles gefahren werden. Am schönsten offenbart sich die profane Erleuchtung aber in dem Abschnitt des Films, der den Anfang vom Ende der Ursprungszusammensetzung der Band 1987 erzählt. Durch die Montage von erinnernder Erzählung, experimentellen Sounds der Band und Zeitbildern, die Landschaftsaufnahmen, die Bandmitglieder und die Dingwelt (Autos, Motelzimmer, Plüschtiere) zeigen, ergibt sich eine Konstellation von (psychischem) Innen und (phy­sischem wie gesellschaftlichem) Außen, Geschichte und Gegenwart, die mehr ist als biographische Chronologie und doch weniger als historische Großerzählung.

Sicherlich wäre es übertrieben, Dinosaur Jr. eine revolutionäre Absicht zuzusprechen, wie sie bei ­Benjamin impliziert ist. Aber ihre Musik, die den moralpolitischen ­Diskursen des Hardcore der Achtziger und der heutzutage vorherrschenden Innerlichkeit des Kreativ- und DIY-Milieus widerspricht, ist etwas Besonderes. Vergangenes ist in dieser Musik und diesem Film immer anwesend, ohne zu überformen oder zu erdrücken. Die Vergangenheit lastet hier weder wie ein Alpdruck auf den Subjekten und der künstlerischen Form noch bedient sie resignative Nostalgie, sie wird vielmehr auf­gehoben. »Freakscene« ist ein kleiner und großer Film über eine kleine und große Band.

 

Freakscene – The Story of Dinosaur Jr. (USA/D 2020). Buch und Regie: Philipp Reichenheim. Mit J Mascis, Lou Barlow, Murph, Kim Gordon, Bob Mould, Henry Rollins. Filmstart: 9. September