In Indien sind die Einkünfte von Essenskurieren in der Pandemie stark gesunken

Profilsperre bei Protest

Die indische Regierung will Liefer- und Dienstleistungsplattformen weiter ausbauen, um Arbeitsplätze zu schaffen und die Wirtschaft zu stärken. Streiks der Beschäftigten, die wenig verdienen und hohen Risiken ausgesetzt sind, zeigten bisher wenig Wirkung.

Ahmedabad. 

Nikhil Ahuja arbeitet seit drei Wochen für den Lieferservice Zomato in der nordindischen Stadt Dehradun. Als »delivery partner« – also als scheinselbständiger Fahrer – verdient er rund 20 000 Rupien (etwa 230 Euro) im Monat. »Das ist fast so viel, wie ich vorher als Buchhalter im Gastgewerbe verdient habe«, sagt er. Durch die Covid-19-­Pandemie hatte er seine vorherige Stelle verloren. Allerdings sieht er seine Tätigkeit für Zomato nicht nur als Übergangslösung, sondern als möglicherweise dauerhafte Karriereoption.

Die Honorare in der Essenslieferung in Indien haben sich im vergangenen Jahr halbiert.

Wie Ahuja entscheiden sich in Indien gerade viele Menschen für Plattformarbeit, bei der man ohne feste Anstellung über Online-Plattformen oder Apps kurzfristig Aufträge vermittelt bekommt. Denn sonst sieht es schlecht aus auf dem Arbeitsmarkt. Nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) ist die Zahl der Beschäftigten in der Plattformarbeit in Indien allein im vergangenen Jahr um etwa zehn Prozent gestiegen.

Doch viele sind unzufrieden mit den Arbeitsbedingungen. Beim indischen Marktführer für die webbasierte Essensauslieferung, Swiggy, gibt es nach Angaben von Beschäftigten auf Twitter vier Rupien pro Kilometer für die ersten vier Kilometer, danach sechs, dazu noch fünf Rupien je fünf Minuten Wartezeit und Bonuszahlungen für Fahrten etwa während Stoßzeiten. Das macht etwa 30 bis 120 Rupien je Fahrt, im Durchschnitt umgerechnet einen Euro. Damit kommt man am Ende des Monats mit Glück gerade so auf den landesüblichen Mindestlohn – das aber auch nur, wenn man die eigenen Betriebskosten nicht einrechnet. Zum Beispiel muss man die Tasche, um das Essen warmzuhalten, und das Swiggy-T-Shirt für zusammen 500 Rupien (etwa 5,75 Euro) erstehen.

Dienstleistungsplattformen haben sich mittlerweile auch in Indien so weit ausgebreitet, dass sich für so gut wie alle erdenklichen Zwecke Online-Angebote finden lassen – von Transportangeboten bis zu Baudienstleistungen. Die Beraterfirma Boston Consulting Group spricht euphorisch davon, dass die Plattformökonomie in Indien zukünftig 90 Millionen Arbeitsplätze im Land schaffen und das Bruttoinlandsprodukt um 1,25 Prozent steigern könnte. Wie viele in dem Sektor derzeit genau beschäftigt sind, weiß allerdings niemand. Schätzungen bewegen sich zwischen drei und fünf Millionen Arbeitskräften.

Viele politisch Verantwortliche in Indien sind der Ansicht, dass die Plattformökonomie weiter gefördert werden sollte. In einem Land, in welchem nach ILO-Angaben über 90 Prozent ­aller Beschäftigten im sogenannten informellen Sektor tätig sind, hofft die Regierung darauf, dass digitale Plattformen die Wirtschaft stärken. Vor allem für Frauen sollen sie Vorteile bringen. Sie sollen ihnen die Möglichkeit geben, sich von ihrem Heim zu lösen und finanziell unabhängig zu werden. Da sie nicht als abhängig Beschäftigte arbeiten, sondern als formal Selbständige, könnten sie zumindest im Idealfall die Arbeitszeiten ihren Bedürfnissen und sonstigen Pflichten anpassen. Die indische privat-öffentliche Aktiengesellschaft National Skill Development Corporation ist eine Partnerschaft mit dem Internetkonzern Microsoft eingegangen, um 100 000 Frauen mit »zukunftsweisenden Fähigkeiten« auszustatten. Damit soll eine neue Wachstumsphase des Landes eingeleitet werden.

Die Realität sieht allerdings oft anders aus. Zum einen gibt es bisher nicht viele Frauen, die in diesem Sektor arbeiten oder daran Interesse ­bekunden. Das liegt schon allein daran, dass nur etwa 30 Prozent der indischen Frauen über einen mobilen Internetzugang verfügen. Diejenigen, die einen solchen Zugang haben, entscheiden sich kaum dafür, Lieferungen auszufahren; Fahrdienste und Essensauslieferung sind bislang Männerdomänen. Und die wenigen Frauen, die für Swiggy arbeiten, unterliegen ab 18 Uhr einer automatischen Sperre, sie erhalten dann keine Aufträge mehr. Die Sperre soll die Frauen angeblich schützen, sorgt aber auch dafür, dass sie weniger verdienen können als Männer.

Nach Angaben der Initiative »What Works to Advance Women and Girls in the Economy«, die von der Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung unterstützt wird, beträgt der Frauenanteil auf der Plattform Urban Company dagegen über 40 Prozent. Urban Company bietet eine Reihe von Haushaltsdienstleistungen an, von handwerklichen Tätigkeiten bis zu Kosmetik und Körper­pflege; bis vor kurzem hieß die Firma Urban Clap. Man muss oft über zehn Stunden pro Tag arbeiten, um ein durchschnittliches Tageseinkommen von 1 200 Rupien (etwa 13,50 Euro) zu erreichen. Die Sozialversicherung ist nicht inbegriffen, man kann sich für sie nach 30 Aufträgen im Monat eine Zuzahlung verdienen. Mutterschaftsgeld gibt es nicht. Zwar hat die App für die bei Urban Company Beschäftigten einen SOS-Button für Notlagen eingerichtet, aber sie fallen nicht unter den 2013 ­erlassenen Sexual Harassment of Women at Workplace Act, weil sie offiziell keinen Arbeitgeber haben.

Während der Pandemie war der Service von Urban Company vorübergehend ausgesetzt. Aber schon vorher hatten sich viele Frauen abgemeldet, weil sie sich während des Lockdowns stärker um die Familie kümmern mussten. Der Beschäftigungsanteil der Männer hingegen wuchs in der Krise. Einem Bericht der britischen NGO Fairwork zufolge ging während der Pandemie der Frauenanteil unter den Beschäftigten in der indischen Plattformökonomie ­generell zurück; Fairwork setzt sich für Arbeiterrechte in der Plattformökonomie ein. In dem Bericht heißt es, dass es in der Plattformarbeit im Vergleich zum Vorjahr mehr Beschäftigte gab, die neu Hinzugekommenen seien aber fast ausschließlich Männer. Diese hätten diese Arbeit »aufgrund der schwierigen Umstände, die aus der Pandemie resultierten«, angefangen. Althergebrachte Rollenmodelle werden also durch den technologisierten Plattformsektor in der indischen Gesellschaft durchaus nicht geschwächt.

Viele Plattformen bieten ihren Beschäftigten die Möglichkeit, individuelle Angaben zur eigenen Person zu machen, was den Konkurrenzkampf unter ihnen nur verschärft. Der Fahrer Shivam Kumar Chauhans gibt auf seinem Zomato-Profil beispielsweise an, dass er aus der Stadt Hapur im Bundesstaat Uttar Pradesh kommt und Naturwissenschaften studiert. »Das erhöht das Vertrauen«, sagt er. Er ist überzeugt, dass er dadurch bessere Bewertungen bekommt.

Andere Angaben sind Pflicht: Wenn man beispielsweise bei Zomato Essen bestellt, wird man seit kurzem darüber informiert, ob der Fahrer oder die Fahrerin bereits geimpft ist. Zudem zeigt die App den Kundinnen und Kunden an, welche Körpertemperatur der Fahrers oder die Fahrerin bei Entgegennahme der Lieferung hatte.

Der verstärkte Konkurrenzkampf macht sich auch finanziell bemerkbar. Einem Bericht des Nachrichtenmagazins The Wire zufolge hat sich das durchschnittliche Honorar in der Essens­lieferung deswegen im vorigen Jahr von 40 000 auf 20 000 Rupien im Monat halbiert. Die Arbeitsbedingungen sind durch die Pandemie nicht unbedingt besser geworden. Obwohl Lieferkuriere als unentbehrliche Arbeitskräfte galten, kursieren im Internet viele Videos, die zeigen, wie sie während des Lockdowns von der Polizei aufgehalten und in einigen Fällen mit Schlagstöcken verprügelt wurden. Zudem sind die Beschäftigten durch ihre vielen Kundenkontakte besonders gefährdet, an Covid-19 zu erkranken.

Im August 2020 schalteten Tausende Plattformbeschäftigte überall in den urbanen Zentren Indiens ihre Telefone ab und waren so für ihre Kundschaft aus der Mittelschicht nicht mehr erreichbar. Sie protestierten tagelang gegen die verschlechterten Arbeitsbedingungen während der Pandemie, stellten aber auch darüber hinausgehende Forderungen. Die Gewerkschaft ­Indian Federation of App-based Transport Workers aus dem Bundesstaat ­Telangana sowie die Gewerkschaft All India Gig Workers Union aus Delhi wollten nicht weniger erreichen, als die Scheinselbständigkeit im Sektor zu beenden.

Ein Jahr ist seit den Protesten vergangen und es hat sich wenig getan, außer dass die Plattformprofile der beteiligten scheinselbständigen Beschäftigten »bis auf weiteres gesperrt« wurden – das heißt, sie wurden gefeuert. Praktischerweise brauchte es dafür nicht mal menschliches Einschreiten. Die Anwendung deaktiviert automatisch die Profile von Beschäftigten, die für eine zu lange Zeit nicht eingeloggt sind. Das ist in allen beschriebenen Subsektoren der Fall. Swiggy arbeitet aber besonders unermüdlich an der Abschaffung des zwischenmenschlichen Kontakts innerhalb der Organisation. Wie es die Journalistin Gayathri Vaidyanathan in einem Artikel für The Wire beschreibt, gibt es praktisch ­keine Teamleiter der Fahrergruppen mehr, die zwischen Management und Beschäftigten vermitteln können. Sie wurden durch Google-Formulare ersetzt, die man ausfüllen kann, wenn man ein Problem hat. Der Mangel an direkten Ansprechpersonen erschwert es, Forderungen überhaupt vorzu­bringen.

Immerhin gibt es seit Donnerstag voriger Woche ein neues zentrales Onlineportal der Regierung, auf dem sich informell Beschäftigte anmelden und landesweit Sozialleistungen beanspruchen können. Obwohl es ähnliche Portale seit 2014 immer wieder gab, hat sich bisher wenig an der prekären Situation vieler informell Beschäftigter geändert. Weder Nikhil Ahuja noch Shivam Kumar Chauhan hatten bisher von dieser Möglichkeit, Sozialleistungen zu beanspruchen, gehört.