Die Alpinistin und Feministin Loulou »la Rouge« Boulaz

Die rote Bergsteigerin

Der Bergsteigerin und Skifahrerin Loulou »la Rouge« Boulaz gelangen immer wieder spektakuläre Erfolge. An sie erinnert wird jedoch kaum.

Im Kanton Wallis, wo das berühmte Matterhorn liegt, wird derzeit der bergsteigenden Pionierinnen gedacht: Vor 150 Jahren war die Britin Lucy Walker die erste Frau auf dem Matterhorn. Das war nur sechs Jahre nach der offiziellen Erstbesteigung des Bergs durch eine Gruppe englischer Gentleman-Alpinisten und einheimischer Bergführer 1865. Nicht nur die sportliche Leistung Walkers war enorm. Auch die Art, wie die junge Frau vorging, war ein revolutionärer Verstoß gegen Sittsamkeit und Etikette: Weil ihr weiter Rock sie behinderte, zog Walker ihn gleich beim Einstieg aus und bestieg das mächtige Matterhorn nur im Flanellunterrock.

Ein Erfolg von Loulou Boulaz am Eiger wäre auch ein politischer Triumph gewesen: Eine Frau, eine Kommunistin, eine Feministin wäre den Nazis zuvor­gekommen, die am Eiger ein Jahr später einen Propagandaerfolg feierten.

Dessen gedacht wird in diesem Jahr im Matterhorn-Dorf Zermatt, einen internationalen Lucy-Walker-Day gab es. Das Matterhorn-Museum widmet dem Frauenbergsteigen eine Ausstellung mit dem Titel »Neue Perspektiven«, und tatsächlich holt sie lange Verdrängtes, Vergessenes und bewusst aus der Erinnerung Vertriebenes ins Bewusstsein.

Aber eine andere Bergsteigerin taucht kaum auf: die 1991 verstorbene Schweizerin Loulou Boulaz, und das obwohl ihr 30. Todestag einen guten Anlass dazu geboten hätte. Im Juli 1937 hatte sie ganz knapp verpasst, was ihr größter Triumph hätte werden können: Gemeinsam mit ­ihrem Lebensgefährten Pierre Bonnant war sie in die bis dahin noch nicht durchstiegene Nordwand des Eigers im Berner Oberland geklettert. Bis zu einer Höhe von 2 700 Metern, bis zum »Schwierigen Riss«, hatten sie es geschafft, aber wegen schlechten Wetters mussten sie abbrechen.

Die damals einflussreiche Schweizer Zeitung Sport nannte den Versuch eine »Beleidigung des Eigers« und kommentierte hämisch: »Gemach, Fräulein Boulaz! Der Eiger ist stärker als Sie! Sie schaden Ihrer sportlichen Karriere und schädigen den Ruf der Schweizer Bergsteiger.« Das Oberländische Volksblatt glaubte sogar, Boulaz Eitelkeit attestieren zu müssen: »Dafür sah man das Bild der Kletterkatze in einigen Zeitungen, was weniger gefährlich ist und zum Gespräch der Leute beiträgt.«

Ein Jahr zuvor war eine deutsche Seilschaft an der Eigernordwand gescheitert, es gab Tote. 1938 dann vereinigten sich zwei Seilschaften, eine deutsche und eine österreichische, in der Wand zur erfolgreichen Durchsteigung. Für die Nazipropaganda, kurz nach dem »Anschluss«, ein Zeichen, was Deutsche und Österreicher gemeinsam zu leisten vermochten.

Im Rückblick wäre ein Erfolg von Loulou Boulaz am Eiger also auch ein politischer Triumph gewesen: Den Nazis zuvorgekommen wäre eine Frau, eine Kommunistin, eine Feministin. Das alles war Loulou Boulaz. Und eine exzellente Bergsteigerin war sie auch, in ihren Worten: »Ich bin ein Wettkampftier.« Ihre Motivation beschrieb sie so: »Das, was uns anzieht, das ist das Unbekannte, das Abenteuer, das Spiel, das Rätsel einer Wand zu lösen, die bis dahin für ­undurchsteigbar gehalten wurde.«

Geboren 1908 als Louise Boulaz im proletarischen Milieu der Kleinstadt Avenches im Kanton Waadt, nannte sie sich selbst Zeit ihres Lebens nur Loulou. Ihre Eltern waren oft arbeitslos. Loulou lernte nach der Handelsschule Stenotypistin, um bei einer Zeitung zu arbeiten – später wurde sie auch Journalistin. Gegen den Willen der Mutter trat sie in den Frauenverein »Fémina Sport« ein, eine Organisation, die es geben musste, weil der renommierte Alpenverein SAC im Jahr 1907 alle Frauen ausgeschlossen hatte. Und sie war in der feministischen Gruppe »Attaque« aktiv und gehörte dort, wie die Neue Zürcher Zeitung schreibt, zur »kämpferischen Fraktion«. Sie sympathisierte zunächst mit den Anarchisten, später mit den Kommunisten. Während des Zweiten Weltkriegs verlor sie wegen ihres politischen Engagements auch ihre Stelle. Doch bei der Inter­nationalen Arbeitsorganisation (ILO) konnte sie im Sekretariat anfangen, später auch bei der Weltgesundheitsorganisation WHO.

Boulaz, die nur 1,53 Meter groß war, liebte die Berge. Im Sommer ging sie Klettern, im Winter Skifahren. Von 1936 bis 1941 war sie Mitglied der Schweizer Skinationalmannschaft der Frauen, 1937 wurde sie sogar WM-Vierte im Slalom. Bergsteigerisch war sie sogar noch besser, dem Fachportal alpinwiki.at zufolge galt Boulaz spätestens in den fünfziger Jahren als »so etwas wie ein Star«, ja sogar als »die größte Bergsteigerin der alpinen Geschichte«.

Oft ging sie in den frühen dreißiger Jahren in reiner Frauenseilschaft ins Gebirge, meist mit ihrer Freundin Lucie Durand. Mit dieser und anderen unternahm sie schwierigste Touren in den Westalpen: im Montblanc-Gebiet und im Berner Oberland. Mit einem Mann, dem hervorragenden Bergsteiger Raymond Lambert, und zwei italienischen Kletterern schaffte sie 1935 die Durchsteigung des Crozpfeilers an den Grandes Jorasses. Sie war als Seilerste unterwegs, und als sie im Tal aufbrachen, galt der Crozpfeiler als noch nicht durchstiegen. Auf dem Gipfel angekommen, erfuhren sie, dass drei Tage vor ihnen zwei Deutsche oben waren. Ein kleiner Trost blieb Boulaz und Lambert: Schweizer Zeitungen feierten die beiden mehr als die zwei Deutschen Martin Meier und Rudolf Peters. Später schrieb Boulaz, »gleichermaßen ahnungslos wie ehrgeizig« seien sie damals gewesen.

Als sie 1937 mit Pierre Bonnant in die Eigernordwand stieg, war sie die erste Frau, die deren Durchsteigung versuchte. 1944, als sie das Matterhorn über den Furggengrat meisterte – neben der Nordwand die schwierigste Weise, den Berg zu besteigen –, war sie die erste Frau, der dies gelang.

So sollte es auch bei dem vermutlich spektakulärsten Projekt sein, das sie in Angriff nahm: 1959 gehörte sie der von der Französin Claude Kogan organisierten ersten »Frauenexpedition in den Himalaja« an. Die Gruppe wollte den 8 188 Meter hohen Cho Oyu besteigen. Boulaz, die Journalistin im Team, versorgte die Weltpresse mit Nachrichten, wie es der nicht nur von der Fachwelt bestaunten Frauengruppe am Achttausender so erging. Etwa 1 000 Meter unter dem Gipfel musste Boulaz jedoch umkehren, denn sie war höhenkrank geworden. Das Einzige, was dagegen hilft, ist der Abstieg in tiefere Regionen.

Derweil wurde das Höhenlager ihrer Kolleginnen von einer Lawine erfasst; Kogan, eine weitere Bergsteigerin und zwei Sherpas, die die Expedition als Träger begleiteten, blieben verschollen. So gesehen hatte Boulaz Glück im Unglück. Über die gehässigen Kommentare, die die Katastrophe begleiteten, ärgerte sie sich. Vom »Leichtsinn und Unsinn des Frauenbergsteigens« war da die Rede – als hätten Männer nicht mehr und noch schlimmere Unglücke an den Achttausendern des Himalaja provoziert.

Sieben Jahre zuvor hatte eine andere Tour von Boulaz ebenfalls dramatisch geendet. 1952 hatte sie mit vier Bergsteigern, darunter Pierre Bonnant, den Walkerpfeiler an den Grandes Jorasses bestiegen. Doch ein Steinschlag verletzte einen der Kletterer, und ein Wettersturz machte eine Rückkehr der Gruppe fast unmöglich. Ausgehungert und dehydriert erreichten die Bergsteiger erst nach drei Nächten in sehr notdürftigen Biwaks endlich eine Hütte, wo sie versorgt werden konnten. Alle fünf hatten Erfrierungen, Pierre Bonnant wurden die Füße amputiert. Er, mit dem sie so oft geklettert war, konnte nie mehr in die Berge. Die Beziehung zerbrach daran, Boulaz’ »wohl bitterster Erfolg«, wie es in der Neuen Zürcher Zeitung hieß.

Aber keine dieser Katastrophen brachte Boulaz dazu, das Bergsteigen aufzugeben. »Wer in die Berge geht, muss kühn sein. Aber nicht tollkühn«, hat sie einmal gesagt. An der Eiger­nordwand versuchte sie sich zwischen 1958 und 1962 – da war sie schon 54 Jahre alt – insgesamt vier Mal, doch ohne Erfolg. Die Eigernordwand war ihre sehr persönliche Herausforderung. Auf Inszenierungen legte sie keinen Wert. »Ich klettere fürs Klettern«, sagte sie einmal. Fotografieren würde sie beim Bergsteigen nie: »Ich denke, das ist Eitelkeit, alles ist Eitelkeit.«

1968 war für Boulaz, die ihres ­politischen Engagements wegen auch den Spitznamen »Loulou la Rouge« trug, ein wichtiges Jahr. Selbstverständlich war sie bei dem in diesem Jahr stattfindenden ersten inter­nationalen Treffen der besten Bergsteigerinnen im schweizerischen Engelberg dabei. Die Verbindung von Feminismus, Sozialismus und Alpinismus war ihr immer selbstverständlich. »Ich hatte in jeder Hinsicht den Teufel im Leib, in den Bergen, im sozialen Leben, im Aktivismus jeglicher Art«, sagte sie später. »Die Zeit ist nahe – hoffen wir es –, da niemand mehr Ärger oder Demütigung empfinden wird, wie es heute noch manchmal der Fall ist, wenn er sich einer Seilschaft anschließt, die einen weiblichen Führer hat«, schrieb sie 1983.

Als sie in Rente ging, immatrikulierte sich Loulou Boulaz an einer Universität, zum ersten Mal in ihrem Leben. Sie wollte Soziologie und Geschichte studieren. Und auf Demonstrationen wurde die kleine große Dame des Alpinismus auch immer wieder gesehen. Sie starb am 13. Juni 1991 in einem Altersheim in Genf im Alter von 83 Jahren.