Sabine Harks neues Buch feiert unkritisch die »Gemeinschaft«

Der Weg in die Nestwärme

Der Begriff der Gemeinschaft feiert seit Jahren eine Renaissance – ausgerechnet im queeren Milieu. Neuester Ausdruck dieser Entwicklung ist das kürzlich erschienene Buch von Sabine Hark, in dem sie völlig unkritisch das »Wir« hochleben lässt und auch sonst nicht viel Neues zu sagen hat.

In den Gender Studies scheint die Zeit stillzustehen. Fast jede Publikation belegt die dort waltende Mischung aus gesellschaftspolitischer Selbstüberschätzung, wissenschaftlicher Einfallsarmut und publizistischer Ratlosigkeit aufs Neue. Wer das nicht glaubt, sollte nicht nur Schriften des akademischen Nachwuchses konsultieren, der sich im gewünschten Sound übt, sondern auch die der wichtigsten Fachvertreterinnen. Zu diesen zählt Sabine Hark, die soeben einen von der Volkswagen-Stiftung geförderten Essay namens »Gemeinschaft der Ungewählten« veröffentlicht hat, der, wie der Untertitel ankündigt, die »Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation« darlegen will.

Gleich eingangs beschreibt Hark das Antidot gegen alles Elend: »Frei ist, wer an der sozialen Praxis einer Gemeinschaft teilhat und sich als Teil eines ›Wir‹ verstehen kann.«

Die Berliner Soziologin gilt trotz ihres monothematischen, selbstreferentiellen Outputs als Aushängeschild des Fachs. In den frühen neunziger Jahren, als andere sich den Kopf über brennende Heimstätten Zugewanderter zerbrachen, betätigte sie sich bereits als hiesige Multiplika­torin von Judith Butlers Postulaten. Dem entsprechen ihr Forschungs­interesse und ihr Erkenntnishorizont nach wie vor: Satte 67mal erwähnt oder zitiert sie die Vordenkerin in ihrem Essay.

Hark ist in den vergangenen Jahren primär mit aktivistischen Vorstößen aufgefallen. Als sei der Ruf der Gender Studies nicht schon schlecht genug, plädierte sie jahrelang dafür, dass das Fach sich an Butlers Ruf nach einem »antiimperialistischen Egalitarismus« orientieren solle. Am 20. Januar 2017 demonstrierte sie in diesem Sinne am Brandenburger Tor in Berlin gegen Donald Trump. In ihrer Rede kam sie, wohlgemerkt auf einer Veranstaltung gegen die Amtseinführung von Trump als US-Präsident, auch auf die sich an diesem Tag jährende Wannsee-Konferenz zu sprechen, bei der bekanntlich die Vernichtung der europäischen Juden beschlossen worden war. Im selben Jahr veröffentlichte sie mit Paula-Irene Villa einen Essay zur Silvesternacht in Köln 2015/2016, der sich weniger ob der massenhaften sexuellen Übergriffe auf Frauen besorgt zeigte als wegen der angeblich rassistischen medialen Repräsentation der Täter.

Im selben Essay dichtete sie sich selbst »vielfältige Migrations- und Fremdheitserfahrungen« an, weil sie aus dem Saarland stammt, das erst 1957 der Bundesrepublik beitrat, weswegen ihre Eltern »streng genommen Zugewanderte« gewesen seien. Dass dieser anzüglichen Projektion niemand aus den Gender Studies widersprach, legt nahe, dass man dort noch die absurdesten Tricks der Selbstprofilierung akzeptiert, selbst wenn damit die Erfahrung rassistischer Diskriminierung fetischisiert und verwertet wird.

Kurz darauf evaluierte Hark mit anderen die Arbeitsstelle Gender Studies an der Justus-Liebig-Universität Gießen, an der unter anderem empirisch zum Rechtsradikalismus geforscht wurde. Als Ergebnis wurde ein »Neustart« der Arbeitsstelle angeraten, das Team um Barbara Holland-Cunz trat daraufhin zurück. Wenige Monate später erhielt die Hark ideologisch nahestehende Nikita Dhawan in Gießen eine Professur.

2019 fand sich Harks Name auf einer akademischen Unterschriftenliste, die einer Petition der Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes für ein Verbot des Mädchenkopftuchs widersprach. In dieser Gegenpetition hieß es, dass nicht etwa die sittsamkeitsbegründete visuelle Markierung weiblicher Kinder und Jugendlicher, sondern ein diesbezügliches Verbot »einen starken Eingriff in die Selbstbestimmung junger Menschen« darstellen würde, das »zu weiteren Eingriffen in ihre Lebensbedingungen und Teilhabechancen« führen und »die schon bestehende Diskriminierung kopftuchtragender Musliminnen« legitimieren würde.

Harks Treiben verdeutlicht exemplarisch, weshalb der antirassistische Spagat zwischen akademischem Trend und Postenkampf nicht mit der Bekämpfung von Frauenverachtung und Rassismus verwechselt werden sollte. Dies unterstreicht auch ihr neuester Essay. Unverschämterweise sind diesem nicht nur die Namen der Toten des Anschlags in Hanau 2020 vorangestellt, die ihm symbolisch Dringlichkeit verleihen sollen, sondern auch ein Zitat von Salmen Gradowski: »Komm her zu mir, Du freier Bürger der Welt, dessen Leben durch menschliche Moral gesichert ist und dessen Existenz durch ein Gesetz garantiert wird, und ich werde Dir erzählen, wie die modernen Verbrecher und gemeinen Banditen die Lebensmoral zertreten und die Gesetze der Existenz vernichtet haben.« Keck steht die Jahresangabe »2019« darunter, als ob der Verfasser dieser Zeilen über die Gegenwart gesprochen hätte – während die Mahnung des 1944 in Auschwitz Ermordeten tatsächlich seine Zeitgenossen adressierte und den deutschen Vernichtungsterror meinte. Die Jahreszahl 2019 hingegen bezieht sich nur auf den Zeitpunkt der Buchveröffentlichung von Gradowskis Aufzeichnungen.

Zentrale These von Harks Essay lautet, dass Gemeinschaften vor einer offenbar allgegenwärtigen und vielschichtigen Gewalt schützten, die analysiert, bewertet und bekämpft werden müsse. Passend zur kontextbefreiten Zitation Gradowskis verrührt Hark jegliche tatsächliche, vermeintliche und in allen Abstufungen weltweit vorfindbare Gewalt zu einem einzigen ahistorischen Brei. Ausgehend von der Behauptung, der Gemeinschaftsbegriff sei durch den Nationalsozialismus »kontaminiert« worden und müsse deshalb wieder aufpoliert werden, taucht der Leser ein in eine Welt gewagter Behauptungen. Gleich eingangs wird das Antidot gegen alles Elend beschrieben: »Frei ist, wer an der sozialen Praxis einer Gemeinschaft teilhat und sich als Teil eines ›Wir‹ verstehen kann.«

Den Weg in diese Nestwärme weise die Figur der »Ungewählten«: »Mit ihr können jene drei Aufgaben bearbeitet werden, die« – Überraschung! – »Judith Butler unlängst erneut als die Aufgaben der Kritik beschrieben hat: Diagnose – wir müssen beschreiben, was ist; Urteil – das, was ist, müssen wir hinsichtlich dessen, wie es auch sein könnte, beurteilen; Tun – sofern wir zu dem Schluss kommen, dass die Welt anders geordnet werden muss, müssen wir Schneisen für Veränderung schlagen.« Ungewählte seien nach Hark alle, da sich niemand seine Mitmenschen ausgesucht habe und alle einen Weg finden müssten, miteinander zu leben. Um dem Spott zuvorzukommen, den solch bescheidene Einsichten unweigerlich provozieren, hat die Autorin dem Essay eine Verzichtserklärung aufs Denken vorangestellt: »Es ist ein Anfang. Nicht mehr, nicht weniger. Angeboten wird keine ausgereifte Theorie, die auf all diese Fragen eine Antwort weiß; dar­­auf, wie Gesellschaften am besten einzurichten wären.«

Nun sind Informationen über die Unzulänglichkeiten und Abgründe der Welt im 21. Jahrhundert frei zugänglich. Konservative arrangieren sich mit ihnen, Liberale sehen stets ihre »zwei Seiten« und Linke beklagen sich, wissen aber meist nicht weiter. In dieser Tradition steht »Gemeinschaft der Ungewählten«. Hark betont an vielen Stellen eine äußerst »komplexe«, die Zusammenhänge durchziehende Dominanzkultur. Deren Gewaltformen seien – es werden die üblichen Stichworte abgespult – »epistemisch«, »imperial grundiert«, »kolonial und kriegerisch«, »undemokratisch«, »kapitalistisch«, »rassistisch«, »rechtsextrem«, »sexistisch« beziehungsweise »heterosexistisch«, »misogyn«, »cripfeindlich«, »heteronormativ«, »neoliberal«, homo- und transfeindlich sowie egoistisch. Alles ist schlecht, alles ist böse; es ist, als läse man christliche Erbauungsliteratur, die nicht ohne Grund in gleichem Maße, wie sie die Außenwelt verurteilt, von der eigenen »Gemeinschaft« schwärmt. Gemessen an der Theorieentwicklung seit den nuller Jahren ist Harks Analyse trivial und verliert sich in einer endlosen Abfolge von Binsenweisheiten und Zitaten. Weder ermittelt sie die Gründe für bekannte Missstände, noch trifft sie Einschätzungen zu Handlungsfähigkeit und politischer Bewegung, die für ein Gegensteuern notwendig wären. Stattdessen empfiehlt sie pauschal mehr Sorge, Zärtlichkeit, Machtsensibilität und Akzeptanz von Pluralität.

Hark beendet ihre niemals konkret werdenden Ausführungen, indem sie zu einem nicht näher bestimmten Aktivismus aufruft: »Gemeinschaftlichkeit dergestalt zu imaginieren, dass neue, transversale und nicht an der Grenze der menschlichen Spezies Halt machende Verwandtschaften zwischen den Verschiedenen, die doch füreinander Gleiche sind, wirklich werden.« Lässt man die Lektüre von »Gemeinschaft der Ungewählten« nach der abschließend von Hark gestellten, an Audre Lorde angelehnten Frage »Und was ist deine Aufgabe?« Revue passieren, wabern einem nur wenige vage Begriffe durch den Kopf. Das meiste hat man schon vergessen. Soll man mit tollen Ideen zur nächsten Demonstration gegen irgendetwas Schlechtes gehen, bis Friede, Freude, Eierkuchen herrschen? Wer glaubt eigentlich an so etwas? Hoffnung muss sich schon bemühen, wenn sie anstecken soll.

Doch das interessiert Genderforscherinnen vom Schlage Harks nicht, die sich vor realen Erfahrungen abgeschottet haben und nicht mit Fakten arbeiten, weswegen ihr aufgeblasener Begriffsapparat von der Wirklichkeit abgelöst bleibt. Er findet Tausende Begründungen, um das offenkundige Armutszeugnis, keinerlei neue Erkenntnisse hervorzubringen, zum Normalzustand zu erklären. Derweil wird jeder Einwand, egal von wem er kommt und egal wie er lautet, als böswillige Attacke, als irrationale Angstreaktion oder als »rechts­populistisch« abgeurteilt. Das scheint aus Risikoabschätzung heraus begründet, denn in diesen Fakultäten geht es um Posten, Status und Drittmittel – die unverzichtbaren Grundlagen des gegenwärtigen babylonischen Turmbaus der soft sciences.

Grundsatzdiskussionen sind überfällig, doch der faktenbefreite und mediokre Essayismus der Gender Studies zeigt, dass daran kein Interesse besteht. Wie die Fähigkeit zum Dissens und zur abstrakten Differenz fehlt die Bereitschaft, aus Kritik oder Polemik Einsichten zu gewinnen. Die unkündbaren Professoren an den Schalthebeln ihrer Disziplinen schweigen sich aus und kochen Altes zu Neuem auf. Ein Ende ist nicht in Sicht. Und somit ist es schließlich doch genau so schlecht, wie Hark auf 271 Seiten schreibt.

Sabine Hark: Gemeinschaft der Ungewählten. Umrisse eines politischen Ethos der Kohabitation. Suhrkamp, Berlin 2021, 271 Seiten, 15 Euro