Ein Gespräch mit Monzur Moin über Arbeitskämpfe in Bangladeshs Textilindustrie

»Beschäftigte haben in der Pandemie ihre wenigen Rechte verloren«

Der Gewerkschafter Monzur Moin spricht über den schwierigen Kampf der Beschäftigten in der Textilindustrie Bangladeshs, sich gewerkschaftlich zu organisieren und die Unzulänglichkeit gutgemeinter internationaler Abkommen.
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Wie haben sich die Covid-19-Pandemie und der erste Lockdown, der in vielen Ländern im März 2020 verhängt wurde, auf die Situation der Textilarbeiterinnen und -arbeiter in Bangladesh ausgewirkt?

Die wirtschaftliche Situation war sehr ernst. So etwas hatten die Beschäftigten noch nie erlebt. Wir als Gewerkschaft riefen die stakeholder der Textilindustrie, also auch die Abnehmer und alle Beteiligten der Lieferkette, am 9. April 2020 öffentlich dazu auf, Verantwortung für die Beschäftigten zu übernehmen, denn eine globale Pandemie erfordert auch Verantwortungsübernahme auf globaler Ebene. Heute können wir sagen, dass keiner Verantwortung übernommen hat, nicht der Einzelhandel, nicht die multinationalen Konzerne, nicht die Abnehmer, nicht die lokalen Fabrikbesitzer und auch nicht die Regierung.

»Es liegt in der Verantwortung der Regierung und der ortsansässigen Unternehmen, für Arbeitssicherheit zu sorgen.«

Den Unternehmen ging es nur um die stornierten Bestellungen und ausgefallenen Lieferungen. Sie nutzten die Situation regelrecht, um sich ihrer Angestellten zu entledigen. Sie ergriffen die Gelegenheit, ihnen dabei auch noch ihre jährlichen Sonderzuwendungen vorzuenthalten, wie auch die Abfindung bei Kündigung. Und so verloren über eine halbe Million Menschen ihre Arbeitsstelle.

Wie kam es zu diesen Entlassungen?

Es kam vor, dass in den Fabriken die Temperatur der Beschäftigten gemessen wurde, vorgeblich, um solche mit erhöhter Temperatur nach Hause zu schicken. Aber tatsächlich wurde das ausgenutzt, um die langjährigen Angestellten auszusortieren, weil diese mehr Rechte und Ansprüche haben, was die Unternehmen als Belastung ansehen. Um sie loszuwerden, wurde ihnen unterstellt, Kopfschmerzen zu haben, wenn kein Fieber feststellbar war. Selbst wenn sie sagten, sie seien nicht krank, wurden sie nach Hause geschickt und gefeuert. Auch wer verdächtigt wurde, infiziert zu sein, konnte gefeuert werden. Wir haben unzählige solcher Fälle dokumentiert, mehr als 160 000 Ar­beiterinnen und Arbeiter haben sich beschwert. Das ging von März 2020 bis in den frühen Mai so.

Wie hat Ihre Gewerkschaft darauf reagiert?

Wir fingen an zu demonstrieren und auch zu streiken, um gegen diese Praxis zu protestieren. So eine große politische Bewegung, so viele Proteste wie während dieses ersten Lockdowns habe ich noch nie erlebt. Als Gewerkschaft konnten wir noch fünf Prozent mehr Lohn erkämpfen, mehr aber nicht.

An dem Tag, an dem die Regierung den ersten Lockdown verhängte (dem 26. März 2020, Anm. d. Red.), haben die Unternehmen Verhandlungen mit der Regierung begonnen, weil sie keine Löhne mehr zahlen wollten. Die Textilindustrie und die Regierung sind hierzulande eng verbandelt. Die Fabrikbesitzer trafen Ahmad Kaikaus, den Amtsleiter der Premierministerin von ­Bangladesh, Sheikh Hasina Wajed. Sie kamen mit der Erlaubnis der Premierministerin aus dem Gespräch, die Löhne um 40 Prozent zu kürzen. Wir hatten also eine halbe Million Entlassungen ohne Abfindung und Leistungen für langjährige Dienstzeiten und 40 Prozent Lohnkürzung im ersten Lockdown. Die Regierung schritt zwar ein und verbot Entlassungen und Kündigungen. Aber die Unternehmen hielten sich nicht daran. Sie forderten finan­zielle Hilfen, wenn sie die Beschäftigten entlohnten. Die Regierung zahlte erhebliche Summen an die Unternehmen, 10 500 crore Taka (crore bedeutet zehn Millionen; umgerechnet gut eine Milliarde Euro, Anm. d. Red.) in der ersten Welle 2020.

Wie war es in der Zeit nach dem ­ersten Lockdown?

Nach dem ersten Lockdown und nachdem die Regierung den Unternehmen finanzielle Hilfen gezahlt hatte, blieben die Fabriken in Betrieb. Da sprach man nicht mehr von Geschäftseinbrüchen und fehlenden Bestellungen wie im Lockdown, als so viele entlassen wurden. Sobald die Unternehmen die Hilfszahlungen bekommen hatten, begannen sie mit Lobbyarbeit für die Offenhaltung der Betriebe.

Es gab mehrere Lockdowns in Bangladesh, während derer wirklich alles zu war – bis auf die Textilindustrie. Das zeigt, welche Macht sie hierzulande hat. Zwei- oder dreimal wurde sogar der ­öffentliche Verkehr stillgelegt. Trotzdem bestanden die Unternehmen darauf, dass die Menschen zur Arbeit kommen, sonst würden sie gefeuert. Manche haben einen Arbeitsweg von 100 Kilometern, den sie dann zu Fuß und mit irgendwelchen Fahrzeugen zurücklegen mussten.

Die Bestellungen sind wieder angestiegen und die Beschäftigten arbeiten Tag und Nacht, werden aber nicht angemessen entlohnt, sie bekommen sogar weniger. Sie haben in der Pandemie ihre wenigen Rechte und Sicherheiten verloren.

Am 24. April 2013 war das Rana Plaza eingestürzt, ein Gebäude, in dem sich mehrere Textilfabriken befanden, wobei 1 135 Menschen getötet und 2 438 verletzt wurden. Daraufhin wurde das Abkommen über Brandschutz und Gebäudesicherheit in Bangladesh beschlossen (Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh, kurz Accord), an dem der Einzelhandel, Markenunternehmen und NGOs beteiligt waren. Am 1. September trat an dessen Stelle eine neue Vereinbarung, das Internationale Abkommen für Gesundheit und Sicherheit im Textilsektor (International Accord for Health and Safety in the Textile and Garment Sector). Wie steht die GWTUC zum alten Accord?

Als der alte Accord 2013 in Kraft trat, kamen viele zu uns, um mit uns darüber zu diskutieren. Wir standen im Austausch, auch wenn wir keine Verbindung zu den NGOs hatten, die sich für die Belange der Textilarbeiterinnen und -arbeiter einsetzten, zum Beispiel die Clean Clothes Campaign. Sie wollten unsere Meinung hören, bevor sie in die Verhandlungen einstiegen. Genauso war es bei der Alliance for Bangladesh ­Worker Safety, dem nordamerikanischen Pendant zum Accord.

Für den neuen Accord ist niemand auf uns zugekommen. Die Unternehmen sind gegen den neuen Accord, sie hetzen auch in den Medien dagegen. Wir haben natürlich eine andere Per­spektive darauf, wegen unseres Klassenstandpunkts.

Wie wirkte das alte Abkommen sich in der Praxis aus?

Wir von der GWTUC sind uns ziemlich einig, dass es sich beim Accord um ein Verhandlungsinstrument handelt. Es gibt einige Ziele, die erreicht werden sollen, bei der Arbeitssicherheit etwa. Dafür setzte man sich ein, aber unserer Meinung nach reicht das nicht, um effektiv Arbeitssicherheit herzustellen. Die können nur die lokalen Behörden und die Polizei herstellen – wenn sie das wollen.

Wir sprechen beim Rana-Plaza-Einsturz und beim Tazreen-Brand von Massakern. (Beim Brand in der Kleiderfabrik Tazreen bei Dhaka am 24. November 2012 starben mindestens 117 Menschen, Anm. d. Red.) Obwohl sich diese sogenannten Unfälle ereignet haben, geht es immer weiter. Im Juli brannte es in einer Saftfabrik in Nara­yanganj, 52 Menschen starben in den Flammen. Wenn sich da etwas ändern soll, muss die Ini­tiative hier aus dem Land kommen. Es liegt in der Verantwortung der Regierung und der ortsansässigen Unternehmen, für Arbeitssicherheit sowie für andere Sicherheitsmaßnahmen zu sorgen. Meiner Meinung nach bringt der Accord wenig. Infolge der Fabrikinspektionen aufgrund des Accords mussten viele Unternehmen schließen, verloren ihre internationalen Handelspartner. Sie entließen ihre Beschäftigten, die natürlich keine Entschädigungszahlungen bekamen, obwohl sie ihnen eigentlich zustanden. Es gab viele solche Fälle.

Waren Gewerkschaftsrechte Teil des alten Accords?

Gewerkschaften sind nicht erlaubt. Die Beschäftigten tun also etwas Illegales, wenn sie sich gewerkschaftlich organisieren. Es gibt zwar legale Wege, sich gewerkschaftlich zu betätigen, aber es gibt eben keine legale freie Gewerkschaft. Als wir beispielsweise 2018 bei Ashiana Garments Industries eine legale Gewerkschaft gegründet haben, schlossen sich und 90 Prozent der Belegschaft an. Wir glaubten, dass sich jetzt etwas ändern werde, daher regis­trierten wir die Gewerkschaft offiziell. Wir gaben die Dokumente an das Ministerium, dieses gab sie an das Unternehmen weiter – und es fing an mit den Kündigungen.

Niemand, wirklich niemand, setzt sich für das Recht gewerkschaftliche Organisation ein. Weder der Accord noch die Abnehmer. Ich kenne viele solcher Fälle wie bei Ashiana Garments Industries. Dort beschuldigten mich die Fabrikbesitzer zudem des versuchten Mordes. Wenn sie wollen, können sie mich lebenslang ins Gefängnis stecken lassen. Auch unser Generalsekretär und an­dere Funktionäre waren für ihre gewerkschaftliche Arbeit schon im Gefängnis. Wenn der Accord also Arbeitssicherheit und Arbeitsrechte etablieren will, dann muss den Arbeiterinnen und Arbeitern das Ausüben ihrer Rechte auch ermöglicht werden, und zwar, eine Gewerkschaft zu gründen und ihre gewerkschaftlichen Rechte frei auszuüben.

Fällt ein Unternehmen heutzutage bei der Accord-Inspektion durch, bekommt es zwar keine direkten Aufträge aus dem Ausland mehr, wohl aber als Subunternehmen der lokalen Industrie. In den Subunternehmen gibt es die schlechtesten Arbeitsbedingungen.

Welche Hindernisse begegnen ­Ihnen darüber hinaus als Gewerkschafter in Bangladesh?

Die politische Situation hier ist sehr angespannt, wir können von einem autokratischen Regime sprechen. In den vergangenen Jahren gab es keine freien Wahlen, die von 2014 und 2018 waren beide eine Farce. Die Situation hat sich 2018 mit dem Gesetz über Digitale Sicherheit (Digital Security Act) verschärft, ich spreche hier von staatlicher Repression bis hin zu Tod in Gewahrsam (beispielsweise starb am 25. Februar der wegen Verstoßes gegen das Gesetz inhaftierte Mushtaq Ahmed in Haft, der in Artikeln Kritik an der Regierung geäußert hatte, Anm. d. Red.). Die Regierung richtet sich nach den Interessen der Unternehmen, des Kapitals. Wenn ich mich für höhere Löhne einsetze, für Arbeitssicherheit, für Arbeitsrechte, für das demokratische Arbeitsrechtsgesetz, dann werde ich als Verräter behandelt, als sei ich gegen die Nation und ihren Fortschritt. Das Arbeitsrecht dient derzeit einzig den Unternehmen. Wir fordern eine Gesetzesänderung für ein neues Arbeitsrecht, das für beide Seiten gilt.

Was ist vom neuen Accord zu halten?

Auch den neuen Accord halten wir für ein Werbe- und Verhandlungsinstrument der Abnehmer und des Einzelhandels. Wie soll sich je etwas ändern, wenn der Gewinn nicht in die nachhaltige Entwicklung der Unternehmen ­gesteckt wird, wenn nicht transparent gemacht wird, wie viel den Angestellten bezahlt wird? Wenn Beschäftigte nicht das Recht haben, sich in einer freien Gewerkschaft zu organisieren? Wie soll so ein bürokratisches Feigenblatt, das von den Markenunternehmen ­gesponsert wird, Brand- und Gebäudesicherheit garantieren? Ändert es ­irgendetwas daran, dass die Markenproduzenten immer billiger herstellen lassen wollen, immer weitere Schlupflöcher dafür suchen werden?

 

Monzur Moin lebt in Dhaka und ist Mitglied des Internationalen Sekretariats der unabhängigen Textilarbeitergewerkschaft Garment Workers Trade Union Centre (GWTUC). Diese steht der Kommunistischen Partei Bangladeshs (CPB) nahe und gilt als die mitgliederstärkste unter den unabhängigen Gewerkschaften Bangladeshs.