In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens brechen alte Konflikte wieder auf

Zurück in die Neunziger

In den Nachfolgestaaten Jugoslawiens keimen alte Konflikte wieder auf. Die angestrebte EU-Mitgliedschaft rückt für einige Balkanländer damit in noch weitere Ferne.

Auf dem Balkan wird ein Neunziger-Jahre-Revival gefeiert. Dabei drohen aber nicht Eurodance, Tamagotchis oder Plateauschuhe, sondern Nationalismus, Drohgebärden und die Mobilisierung von Soldaten.

In einer Rede Mitte Juli sprach der serbische Innenminister Aleksandar Vulin davon, dass es Aufgabe der jetzigen Generation von serbischen Politikern sei, eine »serbische Welt« zu schaffen. Diese »serbische Welt« kann einerseits als etwas netter bezeichnete Variante der Großserbien-Vorstellungen aus den neunziger Jahren verstanden werden, andererseits auch als Anspielung auf Wladimir Putins Verteidigung einer »russischen Welt«, mit welcher er die Annexion der Krim und den Krieg in der Ostukraine rechtfertigte. Vulin sagte zudem, dass serbische Soldaten überall auf der Welt in der Lage sein sollten, Serben zu verteidigen. In den Nachbarländern, insbesondere jenen mit einer großen ethnisch serbischen Bevölkerung wie Kroatien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro und Kosovo, sorgten diese Worte für Unbehagen und Widerspruch. Im Anschluss an die Rede kam es zu Konflikten in den Nachbarstaaten, nicht zuletzt in Montenegro.

In einer Rede Mitte Juli sprach der serbische Innenminister Aleksandar Vulin davon, dass es Aufgabe der jetzigen Generation von serbischen Politikern sei, eine »serbische Welt« zu schaffen.

Dort sollte am 5. September der neue Metropolit der serbisch-orthodoxen Kirche, Joanikije II. Mićović, in der Stadt Cetinje ins Amt eingeführt werden, nachdem sein Vorgänger an Covid-19 verstorben war. Die meisten Kirchen und Klöster in Montenegro unterstehen auch nach der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 2006 der serbisch-orthodoxen Kirche, die der serbischen Regierung sehr nahesteht. Der sich daran entzündende Konflikt, der zu einem regelrechten Kirchenstreit geführt hat, geht darauf zurück, dass nationalbewusste und nationalistische Kräfte eine montenegrinisch-orthodoxe Kirche als neue Nationalkirche zu etablieren versuchen, der bislang aber nur eine Minderheit der montenegrinischen Bevölkerung angehört.

Die Kleinstadt Cetinje mit ihren 14 000 Einwohnern ist die alte Hauptstadt des Landes (bis 1918), Sitz der serbisch-orthodoxen Kirche und gleichzeitig eine Hochburg der Befürworterinnen und Befürworter einer montenegrinischen Eigenstaatlichkeit. Im Jahr 2006 stimmten 86,38 Prozent der Wählerinnen und Wähler in Cetinje für die Unabhängigkeit Montenegros von Serbien, während es im gesamten Land nur 55,49 Prozent waren.

Um die Einführung Joanikijes II. zu verhindern, versperrten Hunderte Demonstrierende die Zufahrtswege und warfen der serbisch-orthodoxen Kirche vor, großserbische Ambitionen zu hegen. Es kam zu Ausschreitungen und Einsatz von Tränengas, Barrikaden wurden gebaut und böse Worte gewechselt. Dutzende angezündete Autoreifen sorgten für dunklen Rauch und Konfliktstimmung, was dem Stadtbild etwas Endzeitliches gab. Schließlich mussten der neue Metropolit und Porfirije Perić, der Patriarch der gesamten serbisch-orthodoxen Kirche, per Hubschrauber eingeflogen werden. In Montenegro stehen sich diejenigen, die sich noch stärker von Serbien abgrenzen wollen, und diejenigen, denen auch die serbische Nationalidentität und vor allem die serbisch-orthodoxe Kirche wichtig sind, weiter feindselig gegenüber.

In Bosnien-Herzegowina sind die Konflikte weniger kirchlicher und mehr weltlicher Natur, aber auch hier spielen die ethnischen Serben, die bosnischen Serben, die Hauptrolle. In der halbautonomen Teilentität Republika Srpska, die 49 Prozent der Landesflä­che umfasst, hat das bosnisch-serbische dominierte Parlament bekanntgegeben, seine Zustimmung zu einer gemeinsamen bosnischen Armee zurückzuziehen. Das bedeutet, dass die serbisch dominierte Entität eine eigene Armee aufbauen will – innerhalb des Gesamtstaats Bosnien und Herzegowina. Die gemeinsame bosnische Armee wurde erst im Jahr 2006 gegründet.

In Verbindung mit regelmäßigen Forderungen nach einer Abspaltung der serbischen Teilentität und der Erinnerung an die Kriegsverbrechen der neunziger Jahre wird dies von der Bosniakisch-Kroatischen Föderation, der anderen Entität, als Bedrohung für den ­Bestand des Staates und sogar für den Frieden angesehen. Das kroatische Mitglied des dreiköpfigen Präsidiums, Željko Komšić, sprach von einem »kriminellen Akt der Rebellion«; im Hintergrund betreiben konservative Kräfte in Kroatien allerdings die Schaffung einer dritten, kroatischen Entität, die das Ende der Föderation wäre.

Während die Serbinnen und Serben in Bosnien und Herzegowina noch mit der Schaffung einer eigenen Armee drohten, hatte die Regierung in Serbien selbst ihre Truppen bereits in Bewegung gesetzt. Der Grund dafür klingt zunächst nach einer Provinzposse: Denn wer an seinem Auto ein serbisches Kennzeichen hat, kann seit dem 20. September nicht mehr über die Grenze nach Kosovo fahren. Man muss das Nummernschild abmontieren, beim Grenzbeamten ein provisorisches kosovarisches Kennzeichen kaufen und dieses innen an die Windschutzscheibe kleben. Dieses kostet fünf Euro und ist zwei Monate lang gültig. Die Regierung Kosovos unter Ministerpräsident Albin Kurti sagt, ihr wäre lieber, wenn diese Prozedur nicht nötig wäre. Aber man habe sie eingeführt, weil man in allen Punkten eine Gleichbehandlung haben wolle. Serbien verlangt schon seit 13 Jahren, dass an Fahrzeugen aus dem Kosovo bei der Einreise ein serbisches Kennzeichen angebracht wird, dass jeweils fünf Euro kostet.

Im nördlichen Teil Kosovos, wo die Mehrheit der Bevölkerung kosovo-serbisch ist, hatten daraufhin Angehörige der serbischen Minderheit aus Protest an zwei wichtigen Grenzposten Straßenblockaden mit Lastwagen errichtet. Kurti entsandte Spezialpolizisten dorthin, worin Kosovo-Serben wiederum eine Art Einmarsch in ihr Territorium sahen. Daraufhin versetzte der serbische Präsident Aleksandar Vučić die Armee in Alarmbereitschaft und verlegte Truppen in die Grenzregion zum Kosovo, das von Serbien weiterhin offiziell als serbische Provinz angesehen wird. Auch hier wurden Erinnerungen an die Jugoslawien-Kriege der neunziger Jahre wach.

Pünktlich zum Westbalkangipfel der EU am 6. Oktober war der Konflikt zwischen der serbischen und kosovarischen Regierung dann wieder so weit deeskaliert, dass zumindest keine bewaffneten Auseinandersetzungen mehr drohten. Bei dem Gipfel in Slowenien trafen die Staats- und Regierungschefs der EU auf die Staats- und Regierungsoberhäupter der Länder des Westbalkan und besprachen deren Beitrittsper­spektive. Die erst kurz zurückliegenden Konflikte waren dabei keine besonders gute Werbung für einen baldigen EU-Beitritt. Offiziell sagte die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen: »Wir möchten den Westbalkan in der Europäischen Union haben.« In Wirklichkeit aber ist den meisten Beteiligten klar, dass so schnell keiner der Staaten des Westbalkans Mitglied der Europäischen Union werden wird. Ein Zieltermin für eine mögliche EU-Erweiterung wurde nicht genannt.

EU-Mitglieder wie Frankreich, Dänemark und die Niederlande stehen einer neuerlichen Erweiterung grundsätz­lich skeptisch gegenüber. Sie wollen keinen weiteren Staaten ein Vetorecht einräumen, solange sich die jetzigen Mitglieder schon nicht auf Grundlagen in der Außen-, Finanz-, und Migrationspolitik einigen können. Diese Skepsis bestärken Staaten wie Ungarn und Polen, in denen nach ihrem Beitritt Rechtsstaatlichkeit, demokratische Standards und Pressefreiheit ausgehöhlt wurden. Einige osteuropäische EU-Mitglieder wie Ungarn und Slowenien drängen hingegen auf eine Erweiterung, allerdings aus dem durchschaubaren Grund, dass ihre Regierungen sich Verstärkung für ihre »illiberalen« Ideologien erhoffen.

Die EU löst das Problem wie viele andere Probleme, für die es keine richtige Lösung gibt: Sie wirft Geld darauf. In den kommenden sieben Jahren sollen neun Milliarden Euro an Fördergeldern in die Region fließen, von denen man sich Nachfolgeinvestitionen in Höhe von rund 20 Milliarden Euro erhofft. Außerdem sollen die derzeit sehr hohen Roaming-Gebühren entfallen und Geld in die marode Verkehrsinfrastruktur gepumpt werden. Damit kommen die Staaten einem EU-Beitritt zwar nicht viel näher, aber in Brüssel hofft man zumindest darauf, damit den Einfluss Russlands und Chinas in der von EU-Staaten umgebenen Region einzuschränken.