Ein Gespräch mit der Soziologin Alicia Schlender über feministische Elternschaft

»Sorgearbeit bleibt gesellschaftlich ungerecht verteilt«

Auch wer seine Familie so egalitär und kollektiv wie möglich gestaltet, bleibt dem Lohnarbeitszwang verhaftet. Alternative Formen von Elternschaft haben aber das Potential, den Status quo herauszufordern.
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»Ich glaube, eine Frau sollte sich vor der Falle der Mutterschaft und der Heirat hüten«, sagte Simone de Beauvoir 1976 im Gespräch mit Alice Schwarzer. Hatte sie recht?

Elternschaft und Mutterschaft sind heutzutage durchaus ein beliebtes Gut, etwas Erstrebenswertes geworden. Im deutschsprachigen Feminismus hatten emanzipatorische Perspektiven darauf aber lange keinen Platz. In den USA haben schwarze Feministinnen viel früher das Emanzipationspotential von Mutterschaft betont. Mutterschaft ist jedoch auch heute noch oft eine Falle. Das zeigt sich etwa in den Berechnungen zur motherhood penalty: Mütter haben noch Jahrzehnte nach einer Geburt Einkommenseinbußen.

»Ich kann meine Familie so egalitär und kollektiv wie möglich gestalten – und trotzdem bleibe ich einem Lohnarbeitszwang verhaftet.«

Was war Ihre Motivation, das »Handbuch Feministische Perspektiven auf Elternschaft« herauszugeben?

Debatten über Elternschaft werden im Privaten und in der Politik geführt. Viele feministische Positionen schwingen da nur implizit mit. Mit dem »Handbuch« wollen wir diese explizit machen und sie in ihrer Bandbreite aufzeigen. Die Grundidee ist, ein Schlagwort – zum Beispiel Unterhalt oder Familienpolitik – im Status quo zu verorten. Die zweite Hälfte des Beitrags schaut, wie verschiedene feministische Strömungen darauf reagieren. Manche Beiträge formulieren mehr eine queere, andere eher eine differenz- oder eine gleichheitsfeministische Perspektive. Mitgemacht haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, aber auch Personen aus der Praxis. Das führt zu einer lebendigen Mischung aus lebensweltlichen Beschreibungen, die zugleich theoretisch unterfüttert sind.

In feministischen Debatten gibt es teilweise erbitterte Kontroversen, beispielsweise über die Themen Leihmutterschaft oder Trans-Schwangerschaft. Wie gehen Sie damit um?

Die Themen sind komplexer. Um ­welche Rechte geht es? Wie werden wem welche Rechte gewährt? Was ist mit dem Recht auf Selbstbestimmung? Wie kann man die Kommerzialisierung von Mutterschaft verhindern? In Deutschland ist Tragemutterschaft weiterhin verboten. Das kritisieren manche, weil es das Recht der potentiellen Tragemutter auf körperliche Selbstbestimmung beschneidet. Im »Handbuch« greifen die Beiträge ineinander. An das Thema Trans-Elternschaft ist beispielsweise eine komplexe rechtliche Debatte gekoppelt. Wer sind die Eltern eines Kindes? Die deutsche Rechtslage ist da sehr restriktiv. Mutterschaft ist international unterschiedlich bestimmt. In Deutschland ist Mutter eines Kindes die Frau, die es geboren hat. Die genetische Herkunft spielt dabei keine Rolle.

Sie schreiben, dass das Leben mit Kind durch die gesellschaftlichen Verhältnisse zur Zumutung werde – nicht durch Familie per se. Was meinen Sie damit?

Der Kapitalismus funktioniert nur mit einer Sphärentrennung: Produktion in der einen und Reproduktion in der anderen Sphäre. Wenn ich Elternteil werde, muss ich diesen Widerspruch koordinieren – im Kapitalismus lassen sich beide Sphären nicht miteinander vereinbaren. Ich denke nicht nur an Heteropaare: Sobald wir versuchen, Sorgearbeit selbstbestimmt aufzuteilen, kommt uns früher oder später die Notwendigkeit in die Quere, Geld zu verdienen. Das Problem an dieser Trennung ist die unterschiedliche Wertigkeit. Das Elterngeld ist ein gutes Beispiel. Für eine Erwerbstätigkeit bekommen wir Lohn; das Elterngeld dient als Lohnersatzleistung. Es beträgt in Deutschland aber nur 67 Prozent des vorherigen Lohns. Die zu Hause ge­leisteten Tätigkeiten werden klar abgewertet. Ich als Mutter soll jetzt diese beiden nicht zu vereinbarenden Sphären jonglieren. Das geht nicht.

Der Neoliberalismus löst gesellschaftliche Probleme, indem er sie individualisiert, so auch in der sozialen Reproduktion. Frauen werden so zu Supermüttern, »zu top moms«, die alles leisten können müssen. Wie kam es dazu?

Mich überrascht diese Entwicklung nicht. Gleichheitsfeministinnen forderten im vergangenen Jahrhundert, dass sich Frauen den Männern angleichen sollten, um möglichst frei lohnarbeiten zu können. Der Gleichheitsfeminismus war wichtig, um überhaupt einen Zugang zu Arbeitsplätzen für Frauen zu schaffen. Als Frau habe ich dann aber nicht nur die Fürsorgerolle, ich soll auch noch eine Rolle auf dem Arbeitsmarkt erfüllen.

Ist feministische Elternschaft im Kapitalismus überhaupt möglich?

Es ist in Form von Halbinseln möglich. Ich kann meine Familie so egalitär und kollektiv wie möglich gestalten – und trotzdem bleibe ich einem Lohnarbeitszwang verhaftet. Die Gesellschaft bleibt eine rassistische, sie bleibt eine heteronormative. In multiplen ­Elternschaften versorgen mehrere Personen ein Kind. In Co-Elternschaften verzichtet man auf romantische Ideale. Aber in beiden Fällen bleiben Geschlechternormen relevant. Die Sorgearbeit bleibt gesellschaftlich ungerecht verteilt.

Welche Formen von Elternschaft, die nicht heterosexuell oder kleinfamiliär gestaltet werden, diskutiert das »Handbuch« noch?

Wir haben Beiträge zu Co-Elternschaft, zu Kollektivität, zu polyamorösen Elternkonstellationen, zu Trans-Schwangerschaft, zu schwuler und lesbischer Elternschaft. Der Beitrag zu Critical Race Parenting zeigt, wie sehr das Ideal der Kleinfamilie als weißes konstruiert wird. Auch zu Alleinerziehenden, die ebenfalls außerhalb der Kleinfamiliennorm leben, haben wir einen Beitrag. Der macht klar: Wer sich um Kinder kümmert, wird in dieser Gesellschaft mit einer großen Wahrscheinlichkeit arm. Denn der Staat überträgt Sorgearbeit auf private Schultern – meistens auf die von Frauen.

Welches emanzipatorische Potential haben alternative Formen von Elternschaft?

Sie haben erst einmal das Potential, den Status quo herauszufordern. Gesellschaftliche Bewegung kann nur passieren, indem Rechte immer wieder eingefordert werden. Das hat sich in der Vergangenheit an der Öffnung der Ehe gezeigt. Genauso heute bei Co-Elternschaften oder multiplen Eltern: Die momentane Rechtslage sieht vor, dass nur zwei Eltern sorgeberechtigt sein können. Mit dem Thema wird eine Öffentlichkeit dafür geschaffen, dass Familie mehr als die traditionelle Kleinfamilie sein kann. Damit wächst die ­gesellschaftliche Akzeptanz, wenn auch langsam. Gleichzeitig stoßen auch alternative Familienkonzepte an Grenzen, die eine kapitalistisch-patriarchale ­Gesellschaftsordnung vorgibt.

Können Co-Elternschaften oder polyamoröse Elternschaften kleine Utopien sein, die den strukturellen Problemen ernsthaft beikommen?

Nein. Es kann nicht Aufgabe von normabweichenden Familienformen oder einzelnen Individuen sein, diese gesamtgesellschaftliche Schieflage zu bewältigen. Dann sind wir wieder bei den top moms: Wer kann eigentlich eine top mom sein? Wer hat dafür das finanzielle und soziale Kapital? Gesellschaft­liche Ungleichheiten lassen sich nicht individuell lösen. Das »Handbuch« zeigt mit ganz konkreten Vorschlägen, dass es mehr braucht. Ein Beitrag diskutiert das Beispiel einer Kindergrundsicherung. Die ist eine Alternative zu einkommensteuerlichen Maßnahmen wie dem klassenselektiven Kindergeld beziehungsweise den kinderbezogenen Freibeträgen. Diese steigen mit höherem Einkommen und damit steigt auch die steuerliche Entlastung, je mehr man verdient – so wird Ungleichheit zementiert.

Warum wird kollektive Kindererziehung familienpolitisch nicht stärker gefördert?

Weil es an über Jahrhunderte gewachsenen Grundsätzen rüttelt. Das binäre Geschlechtersystem ist wichtig, um den Kapitalismus zu erhalten. Bislang ist politisch noch nicht vorgedrungen, dass Kollektivität der ganzen Gesellschaft zugute kommen kann. Es gibt nur zwei rechtliche Eltern. Das Recht widerspricht sich in dieser Frage selbst, weil die Zwei-Eltern-Ordnung mit der Idee verteidigt wird, dass diese Konflikte vermeide. Das bezweifeln wir.

Vor kurzem fand die Bundestagswahl statt. Was wünschen Sie sich von der Politik?

Das »Handbuch« zeigt 50 Mal, wie weit die deutsche Familienpolitik hinterherhinkt. Viel diskutiert wird derzeit, wer die zweite Elternstelle besetzen darf. Die Kampagne #Nodoption beispielsweise macht sich stark dafür, dass eine Mitmutter auch rechtlich Mutter werden kann, ohne ihr eigenes Kind zu adoptieren. Auch die gesellschaftliche Ausbeutung von Sorgenden, meistens Müttern, ist im Wahlkampf ein Thema gewesen. Wir brauchen dringend Konzepte, die die Sorge für Kinder gesellschaftlich besser verteilt.


Alicia Schlender forscht an der Humboldt-Universität zu Berlin am Institut für Soziologie der Arbeit und der Geschlechterverhältnisse. Sie leitet außerdem Workshops zu Feminismus, Mutterschaft und feministischer Familienkritik. Zusammen mit Lisa Yashodhara Haller hat sie das »Handbuch Feministische Perspektiven auf Elternschaft« herausgegeben, das demnächst erscheint. Die insgesamt 50 Beiträge behandeln Themen von Trans-Schwangerschaft über begleitete Elternschaft bis hin zu feministischen Utopien.