Mary Leng im Gespräch über die geschlechtspolitischen Auseinandersetzungen in Großbritannien

»Feministinnen wünschen sich, dass Geschlecht keine Rolle spielt«

Die britische Philosophin und Professorin Mary Leng hat sich in den vergangenen Jahren mehrmals in die Debatten über Feminismus eingemischt und sich kritisch darüber geäußert, den Unterschied zwischen »sex« und »gender« zu verwischen. Im Interview mit der »Jungle World« erklärt sie, wieso sie sich solidarisch mit der Professorin Kathleen Stock erklärt hat, deren Kündigung jüngst gefordert wurde, und was die feministische Kritik von der Mathematik lernen kann.
Interview Von

Sie haben sich in Großbritannien prominent zu Wort gemeldet, was die jüngsten geschlechterpolitischen Debatten angeht. Das liegt angesichts Ihrer akademischen Arbeit nicht auf der Hand.

Ich bin Philosophin, habe einen Doppelabschluss in Mathematik und Philosophie und beschäftige mich hauptsächlich mit Wissenschaftsphilosophie, weswegen der Konflikt um Geschlecht und Geschlechtsidentität für mich eher ein Randthema ist. Als ich in Toronto studierte, habe ich aber mit Ian Hacking zusammen­gearbeitet, der sich dafür interessiert, wie menschliche Kategorien konstruiert und historisch rekonstruiert werden. Dort war ich mit einem ­Projekt zu den Begriffen »Frau« und »Mathematiker« befasst, die historisch so konstruiert wurden, dass sie sich gegenseitig ausschlossen, weswegen die Idee einer »Mathematikerin« lange als Widerspruch in sich galt, da Frau als irrational, emotional und weltorientiert galt, während Mathematik als rational, gehirn- oder verstandesorientiert verstanden wurde.

Ich hatte den Eindruck, dass der Kampf der Feministinnen in den siebziger Jahren darin bestand, solche Konstruktionen in Frage zu stellen und geschlechtsspezifische Stereotype zu widerlegen, die beispielsweise die »Mathematikerin« zu einem Ding der Unmöglichkeit gemacht hatten. In den vergangenen Jahren überraschte mich dann, dass im Feminismus immer mehr die Idee akzeptiert wurde, eine Frau zu sein bedeute, sich mit etwas zu identifizieren, das auf mich wie Weiblichkeit wirkte. Mir schien das dieser Bewegung völlig zu widersprechen, die schließlich bestrebt ist, Normen von dem abzuziehen, was es bedeutet, eine Frau zu sein, und die zudem sagt, dass eine Frau einfach ein erwachsener weiblicher Mensch ist.

Ihr Bildungsweg und Ihr genderkritisches Engagement haben sich gleichwohl überschnitten.

Als Doktorandin dachte ich, mein Interesse an der Philosophie der ­Mathematik sei ein viel besserer Weg, Feministin zu sein, als einem Projekt in der feministischen Philosophie nachzugehen. Ich war davon ausgegangen, dass die konzeptionellen Fragen dort bereits geklärt seien. Offensichtlich habe ich mich geirrt – alle Irrtümer sind nun wieder da. Damals dachte ich aber, wir wüssten alle, dass diese Stereotype nichts damit zu tun haben, was es heißt, eine Frau zu sein. Die beste Art und Weise, auf Leute zu reagieren, die sagen: »Frauen können das nicht, Frauen können nicht denken«, ist, einfach loszulegen und es trotzdem zu tun. Ich denke, es gibt feministische Phi­losophinnen, die ein gewisses Unbehagen mit der pauschalen Annahme haben, eine Frau zu sein bedeute heutzutage, sich als solche zu identifizieren. Aber weil es so schwierig ist, in diesem Bereich zu arbeiten und etwas zu sagen, das gegen diese ­Orthodoxie verstößt, halten sie sich von solchen Fragen fern.

Was, glauben Sie, hat zu dieser Entwicklung beigetragen, dass diese neuen Annahmen nicht stärker kritisiert werden?

Das laute und bösartige Aufschreien, wenn jemand diese Orthodoxie hinterfragt. Darauf reagieren Leute oftmals mit: »Wenn sie so wütend auf mich sind, müssen sie recht haben. Und wenn ich das nicht sehe, bin ich vielleicht bigott.« Das hält Menschen davon ab, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen.

Warum haben es die Aktivisten gerade auf Kathleen Stock abgesehen?

Einer der Hauptgründe ist, dass sie an einer Universität arbeitet und institutionelle Unterstützung genießt. Sie haben mit der Institution also eine Anlaufstelle, um sich zu beschweren. Stock war zudem eine der ersten, die diese Diskussion im Vereinigten Königreich in Gang gebracht haben; innerhalb der akademischen Welt war sie eine der ersten, die Fragen be­züglich geschlechtlicher Selbstidentifikation aufgeworfen haben. Dafür hat sie viel Kritik einstecken müssen, auch wenn andere nachzogen.

Warum verspüren junge Menschen einen solchen Drang, auch solche hasserfüllten Kampagnen zu fahren?

In deren Augen sind Ansichten wie die von Stock bigott, schädlich und gefährden Menschen. Mir fällt es ehrlich gesagt schwer, das nachzuvollziehen, aber das ist ihre Überzeugung. Sie verbreiten Gerüchte über Stocks Ansichten und behaupten, dass sie Forderungen nach der Auslöschung von Transmenschen unterstütze – was, wenn man liest, was sie zu diesem Thema gesagt hat, so weit von der Wahrheit entfernt ist, dass es geradezu unglaublich ist. »Oh, da ist eine, die herumläuft und Erklärungen unterschreibt, in denen steht, dass wir Transmenschen ausrotten sollten« – wäre das wahr, könnte man verstehen, warum sie wütend sind.

Das ist aber nicht, was Stock sagt. Sie sagt, dass die bestehenden Gesetze im Vereinigten Königreich beibe­halten werden sollten, die eine Unterscheidung zwischen gender, der selbstzugewiesenen Geschlechtsidentität, und sex, Geschlecht, im Gleichstellungsgesetz erlauben. Transmenschen sollten unbedingt respektiert und ihnen sollte das Leben so leicht wie möglich gemacht werden. Aber es gibt Situationen, in denen geschlechtergetrennte Räume wichtig sind und in denen wir zwischen ­Geschlecht und Geschlechtsidentität unterscheiden müssen.

Wie gehen Sie selbst mit protestierenden Studenten um?

Es ist sehr heikel. Die Sache polarisiert, und es herrscht viel Misstrauen. Ich denke, dass man Angaben zu Geschlecht und zu Geschlechtsidentität getrennt erfassen und sehr klar ­damit sein sollte, um nachvollziehen zu können, wer aufgrund eines der beiden Merkmale benachteiligt wird. Man weiß, dass weltweit mehr männliche Kinder geboren werden, weil bei der Geburt das Geschlecht ­registriert wird. Dadurch kann man nachvollziehen, in welchem Umfang geschlechtsselektiv weibliche Föten abgetrieben werden. Aspekte wie diese sind es, die mich alarmieren. Aber wenn ich das sage, antworten Transaktivisten: »Das ist nur Hundepfeifen-Politik. Das ist nicht, worüber du dir wirklich Sorgen machst. Ihr hasst einfach Transmenschen und wollt nicht, dass sie an­erkannt werden.« Und dieser Mangel an Vertrauen macht es sehr schwer.

Gendertheoretische Irrungen und transaktivistische Postulate haben in Großbritannien LGBT-Organisationen wie Stonewall, aber auch Redaktionen großer Zeitungen übernommen. Sie bilden einen gesellschaftlichen Nimbus, dem viele kaum entkommen können.

Ja. Der wird aber nicht standhalten, weil diese Ideologie so viele Risse hat. Betrachtet man, was rechtlich vorgeschlagen wird – nämlich dass wir geschlechtliche Fakten überhaupt nicht registrieren sollten oder, falls doch, auf Basis von Selbstidentifikation –, so sieht man, dass das eigentlich schädlich für Transmenschen ist: Denn leider werden diese diskriminiert, weil ihr Geschlecht nicht mit ihrer Geschlechtsidentität übereinstimmt. Wenn man also nicht in der Lage ist, Fakten bezüglich des Geschlechts getrennt von solchen bezüglich der Geschlechtsidentität zu erfassen, wird man nicht in der Lage sein, diese Probleme zu erkennen. Zudem wünschen sich viele Feministinnen, dass Geschlecht auf der Welt keine Rolle spielt. Aber man kann es nicht einfach per Gesetz ignorieren, denn es spielt immer noch eine Rolle, insbesondere was Diskriminierung angeht. Das, was als »bestes Vorgehen« in Sachen Transrechte pro­pagiert wird, schadet also sowohl Transmenschen als auch Frauen. Ich denke nicht, dass das eine beständige Haltung sein wird.

Aber ist es nicht ein schlechtes Zeichen, dass seitens der Universitäten relativ wenig getan wird, um diesen Entwicklungen in der Debatte entgegenzutreten?

Fairerweise muss man festhalten, dass der Vizekanzler der University of Sussex nachdrücklich sagte, Stock solle in der Lage sein, ihre Arbeit fortzusetzen. Und ich bin zuversichtlich, dass andere Hochschulen eine ähnliche Position beziehen werden – die Universität von York, an der ich eine Professur habe, hat mich immer ­unterstützt, wenn ich zu diesen Debatten beigetragen habe. Das ist ein hoffnungsvolles Zeichen.

Was erhoffen Sie sich von der genderkritischen Bewegung, die derzeit in Großbritannien entsteht?

Genderkritische Artikel haben es schwer, in peer-reviewten Fachzeitschriften veröffentlicht zu werden. Im Gegensatz zu Artikeln zu anderen Themen gibt es dort gehöriges gatekeeping. Ich hoffe, dass mehr Leute anfangen, Arbeiten einzureichen, die diese Orthodoxie in Frage stellen, so dass es zumindest eine Mainstream-Diskussion darüber geben kann, und dass Leute, die denken, dass wir völlig falsch liegen, von ihrer »Keine Debatte«-Haltung ab­lassen und ihre Einwände artikulieren. In der Philosophie hoffe ich, dass wir zu einem Punkt kommen, an dem Leute keine Angst haben, in diesem Bereich zu veröffentlichen und zu arbeiten.

Glauben Sie, dass Mathematik hierbei eine Rolle spielen kann?

Helen Joyce, die Autorin des jüngst erschienenen Buchs »Trans: When Ideology Meets Reality«, ist promovierte Mathematikerin und verweist auf die Bedeutung von Definitionen. Eine Sache, die ihr aus Perspektive der Mathematik beim aktivistischen Verständnis von »Frau« als Geschlechtsidentität auffiel, ist, dass diese Definition nicht weiterhilft, weil sie zirkulär ist – eine Frau zu sein bedeute, sich als Frau zu identifi­zieren. Worauf soll das basieren? Mathematisches Denken kann nur in­sofern helfen, als es philosophisches Denken ist – es geht darum, herauszufinden, welche Annahmen man hat und was aus diesen folgt, um zu versuchen, Dinge zu Ende zu denken. Viele der Fehlentwicklungen, in die wir geraten sind, sind darauf zurückzuführen, dass wir Sachen nicht richtig durchdacht haben.

Es ist ein verständlicher Instinkt, zu sagen: »Mein Herz ist bei Transmenschen, dieser Randgruppe, ihr Anliegen ist dasselbe wie einst bei Homosexuellen – was bedeutet, dass ich akzeptieren sollte, was auch ­immer behauptet wird.« Viele Menschen denken das tatsächlich, doch auch wenn es gut gemeint ist, was bedeutet das wirklich? Wenn man akzeptiert, dass Geschlecht durch Geschlechtsidentität ersetzt werden sollte – was folgt daraus? Wer einen Blick auf den Sport und das Recht wirft, wird feststellen, dass das wahrscheinlich keine gute Idee ist. Ich weiß nicht, ob das nun Philosophie, Mathematik oder einfach nur kritisches Denken ist – aber es hilft, die Dinge zu durchdenken.
 

Mary Leng

Die britische Philosophin Kathleen Stock (unter anderem Autorin des in diesem Jahr erschienenen Buchs »Material Girls: Why ­Reality Matters for Feminism«), die zu Literatur, Ästhetik und sexueller Orientierung geforscht hat und sich unter anderem ­gegen die sogenannte »Self-ID« in Bezug auf Geschlecht beispielsweise im rechtlichen Rahmen ausspricht, ist seit Jahren Ziel­scheibe von Protest. Im Oktober eskalierte dieser erneut, als Studenten ihrer Universität in Sussex ihr vorwarfen, eine »verfälschte Version des Radikalfeminismus« zu vertreten, die »Transmenschen in Gefahr« bringe. Nachdem ihre Kündigung gefordert worden war und die Polizei ihr riet, eine Überwachungskamera an ­ihrer privaten Wohnungstür zu installieren und den Campus nur mit Leibwächtern zu betreten, erschien ein Solidaritätsschreiben zu Stocks Gunsten, dass mittlerweile über 2 700 Akademiker unterzeichnet haben, darunter Mary Leng.

Aktualisierung: Kathleen Stock hat am 28. Oktober bekannt gegeben, nicht weiter für die Universität von Sussex zu arbeiten.