Die Serie »Squid Game« bedient sich sozialkritisch scheinender Klischees

Kritische Blutfontänen

Die südkoreanische Streaming-TV-Serie »Squid Game« zeigt den Konkurrenzkampf als plumpe Allegorie – und ­ermöglicht, ohne es zu wollen, einen kritischen Blick auf das Format der gesellschaftskritischen Serie.

Das goldene Zeitalter der Serie ist vorbei. So ­behaupten es jedenfalls gerne diejenigen, die den Höhepunkt des Fernsehformats in den Jahren um die Jahrtausendwende sehen, als HBO-Produktionen wie »The Sopranos« erschienen, die mittlerweile so tief ins kulturelle Gedächtnis eingesickert sind, dass sie als der Standard des Erzählens im Format der Serie gelten. Die Produktionen der vergangenen Jahre, eines silbernen (oder vermutlich eher: bronzenen) Zeitalters, waren dagegen vor allem schnell produziert und ebenso schnell vergessen. Ausnahmen gab es zwar, doch die gingen in der Flut unter, die Monat für Monat vor allem durch die zunehmend etablierten Streaming-Portale spülte. Oder wer erinnert sich jetzt noch an »Riverdale«?

In dieser Zeit, in der dem Format Serie so langsam wieder die Relevanz flöten geht, während viele junge Produzenten schon fast krampfhaft auf eben jene schielen, ist die südkoreanische Serie »Squid Game« von Hwang Dong-hyuk erschienen und innerhalb kürzester Zeit zur erfolgreichsten Netflix-Serie aller Zeiten aufgestiegen. Zugriffe von 111 Millionen Nutzern verzeichnete »Squid Game« allein im ersten Monat und durfte daraufhin gleich eine Siegesrunde durchs Feuilleton drehen. Ein Hype war geboren.

Die Deutung der gezeigten Gewalt überlässt »Squid Game« zu keinem Zeitpunkt den Zuschauern: Die »kritische Perspektive« wird hier gleich mitgeliefert.

Die Handlung ist simpel: 456 bank­rotte, verschuldete oder anderweitig verzweifelte Menschen treten auf einer abgelegenen Insel in koreanischen Kinderspielen gegeneinander an. Zu gewinnen gibt es 45 Milliarden Won, umgerechnet etwa 33 Millionen Euro. Das Risiko allerdings ist hoch, auf die Verlierer wartet nämlich der Tod.

Tod durch Selbstschussanlagen, maskierte Wachen in pinken Overalls oder auch einfach durch die anderen Spieler, die das ohnehin schon tödliche Gewinnspiel noch einmal mit einer Homo-homini-lupus-Show der Extraklasse ausstatten – die Botschaft kommt an: Die Welt ist kalt und ihre Bewohner sind noch kälter; Reichtum oder Untergang erscheinen als die einzigen Möglichkeiten.

Und »Squid Game« inszeniert einen Untergang nach dem anderen in einer bedrückenden und physischen Drastik. Bereits beim ersten Spiel werden die Hälfte der Teilnehmer von einer riesigen singenden Mädchenpuppe niedergeschossen und verspritzen fröhlich Blutfontänen zu klassischer Musik in einer bonbonbunten tödlichen Spielplatzwelt. Im Hintergrund ist alles glatt, abstrakt und in Pastellfarben gehalten, ­während die zerstörten Körper, ihrem Ende nah, aufs Organische reduziert sind. Zerschossene Köpfe, zerhackte Hände, aufgeschnittene Torsos – die neun Folgen sind voll davon. Immer wieder hält die Kamera auf schweiß- und tränennasse Gesichter von Menschen, die um ihr Leben betteln.

Die Deutung dieser Gewalt überlässt »Squid Game« zu keinem Zeitpunkt den Zuschauern: Die »kritische Perspektive« wird hier gleich mit­geliefert. Dass das titelgebende Spiel eine große Allegorie auf die Abgründe alltäglicher Konkurrenz im Kapitalismus, die fiktive Hölle der dekadenten Tötungsshow nur Stellvertreter einer realen Hölle sein soll – man kann es direkt aus dem Netflix-Teaser-Text für die zweite Folge ablesen. Diese, die natürlich auch noch »Hölle« heißt, enthält überhaupt das Gesellschaftsbild der Produktion in nuce: Das mörderische Spiel beruht (zumindest bis zu einem gewissen Grad) auf Freiwilligkeit. Nach der ersten blutigen Runde dürfen die Überlebenden abstimmen, ob sie das weiterspielen wollen. Ganz knapp fällt die Entscheidung gegen das Spiel aus und alle kehren nach Hause zurück – nur um dort festzustellen, dass Schulden, Arbeitslosigkeit und eine Gesellschaft auf sie warten, die keine Gnade für die Verlierer des Wettbewerbs kennt. Am Ende der Folge wollen sie alle wieder zurück in das Spiel. Eine Perspektive auf etwas anderes als den Kampf jeder gegen jeden hat keiner von ihnen.

Am wenigsten der Protagonist der Serie, Seong Gi-hun (Lee Jung-jae), der nach dem Scheitern seiner Ehe und langer Arbeitslosigkeit wieder bei seiner Mutter wohnt, von ihr Geld klaut und es beim Pferderennen verliert. Seiner Tochter kann er zum Geburtstag nur ein Feuerzeug in ­Pistolenform aus dem Greifzangenautomaten schenken. Natürlich muss aus diesem mittellosen Verlierer der Held der Geschichte werden – ein einsamer Held wohlgemerkt. Denn die kleine Solidargemeinschaft mit anderen Spielern zerbricht spätestens dann, wenn sie beim Murmelspielen gezwungen werden, gegeneinander anzutreten.

Gi-hun bleibt am Ende der Serie ein einsamer Kämpfer, auch wenn er als Kollateralschaden des südkoreanischen Wirtschaftswachstums zumindest noch für die Erinnerung an Solidarität steht: In einem traumar­tigen Rückblick wird deutlich, dass er seine Arbeit verlor, weil er einer militanten Streikbewegung angehörte, die an die brutal niedergeschlagenen Streiks im Ssangyong-Motorenwerk 2009 erinnert; nur eines der jüngeren Kapitel einer gerne als erfolgreich betrachteten Wirtschaftswachstumsgeschichte, in der sich Südkorea seit den sechziger Jahren zu einer der führenden Volkswirtschaften entwickelt hat – unter absoluter Nichtbeachtung der Folgen für Arbeiter und Natur.

Es erscheint daher naheliegend, dass in den vergangenen Jahrzehnten eines der großen kulturellen Exportgüter des Landes Horrorfilme waren – oder zumindest Filme, die in ihrer Ästhetik dem Horror nahestehen. Die einflussreiche Distributionsfirma Tartan Films vermarktete solche ­Filme seit den Neunzigern unter dem Label »Asia Extreme«. Dass gerade im südkoreanischen Kino das Extreme oft durch das Zusammenspiel der scheinbaren Gegensätze Terror und Komik entsteht, veranschaulichte vorletztes Jahr »Parasite« von Bong Joon-ho, ein Film, der auch aufgrund seiner ähnlich brutalen Auseinandersetzung mit der Kehrseite der südkoreanischen Fortschrittsgeschichte gerne in einem Atemzug mit »Squid Game« genannt wird.

Aber auch ein älterer Film wie »Sympathy for Mr. Vengeance« (2002) von Park Chan-wook zeigte in der verzweifelten und blutigen Suche des taubstummen Protagonisten nach einer neuen Niere für seine Schwester die Welt als feindlichen Ort, an dem jeder kleine Fehler das Ende bedeuten kann. Dasselbe gilt für »klassischere« Horrorstreifen wie »The Wailing« (2016) oder »A Tale of Two Sisters« (2003). Am Ende dieser Filme, in denen das Schicksal der Figuren fast jedes Mal in einer beeindruckenden Endgültigkeit besiegelt wird, bleibt beim Zuschauer stets eine besondere Form des Grauens zurück: Hilflosigkeit.

Der Hilflosigkeit verweigert sich Hwang Dong-hyuk in »Squid Game«, aber er erkauft sich den Ausweg mit brachialer Plumpheit. Am Ende zeigt er die Zuschauer des tödlichen Spiels: vom Reichtum verwahrloste Kapitalistengestalten, süffisante Barbaren mit Tiermasken, die Zigarren rauchen und Witze über das Sterben der Spieler machen. Sprich: Karikaturen der Ausbeutung, und nicht einmal besonders interessante.

Die Sozialkritik der Serie war es, die ihr den Jubel des Feuilletons einbrachte. Interessant ist »Squid Game« aber nicht deswegen, sondern weil darin etwas zu seinem konsequenten Ende geführt wird, was bereits in den goldenen HBO-Serien angelegt war: das Ansprechen des »kritischen« Fernsehkonsumenten, der gerne etwas Gesellschaftskritik zur Abendunterhaltung wünscht. Wurde bei Serien wie »The Wire« oder »Mad Men« den Zuschauern noch zugemutet, gedankliche Vermittlungsarbeit zu leisten, um herauszufinden, was nun der kritische Gehalt des in der letzten Stunde Gesehenen war, hängt Hwang Dong-hyuk bei »Squid Game« einfach ein riesiges Sparschwein voller Geldscheine auf und lässt die Todgeweihten sehnsuchtsvoll zu ihm aufblicken. Das ist vielleicht die letzte Konsequenz der Fernsehsender und Streaming-Dienste, die das vermeintlich kritische ­Bewusstsein ihrer Zuschauer als einen Faktor einkalkuliert haben, den es eben zu bedienen gilt.

»Squid Game« kann bei Netflix ­gestreamt werden.