Staatliche Hilfen in der Pandemie zeigen noch keinen linken Politikwechsel an

Neoliberalismus zum Aus- und Anschalten

Angesichts der wachsenden Rolle des Staats in der Pandemie auf einen linken Politikwechsel zu hoffen, zeugt von einem großen Missverständnis.

Als sich Anfang 2020 Sars-CoV-2 weltweit ausbreitete, wurde fast überall das öffentliche Leben lahmgelegt. Eine solche weltumspannende Reaktion auf eine Krise ist historisch einzigartig. Ebenso einzigartig war die dadurch herbeigeführte Rezession; sie war schwerer als die Weltwirtschaftskrise der Jahre 2007 und 2008.

Viele erwarteten, dass die Covid-19-Pandemie, die verantwortliches Handeln verlangte und die Abhängigkeit des Einzelnen von der Gesamtheit verdeutlichte, zu gesellschaftlichen Veränderungen oder einer Renaissance des Sozialstaats führen würde. »Die Krise fördert ein paar Erkenntnisse über Solidarität, den Nationalstaat und Neoliberalismus zutage, die nicht völlig neu sind, aber die man vor ein paar Wochen noch nicht so scharf konturiert sah«, hieß es etwa im März 2020 in der Taz. Im Juli dieses Jahres sagte der Soziologe Hartmut Rosa im Gespräch mit derselben Zeitung: »Ich finde, wir haben jetzt alle gemerkt, untergründig, wie wertvoll ein Empfinden des gemeinsamen Lebens ist«; das sei »eine Botschaft, die das definitive Ende des Neoliberalismus markiert«. Für die Zeit nach der Pandemie seien »neue Formen des Zusammenwirkens« nötig.

Wenn die Wirtschaft einbricht, wird plötzlich die Notwendigkeit eines starken Staats wiederentdeckt, der mit Milliarden die Märkte stabilisiert.

Tatsächlich trat die Aufgabe des Staats, im als gesamtgesellschaftlich verstandenen Interesse zu intervenieren, in der Pandemie deutlicher hervor. Nicht nur musste mit Ausgabenprogrammen die Wirtschaftskrise abgefedert werden, dem Staat fiel es auch zu, durch Gesundheitspolitik, Aufklärung, Appelle, Regulierungen und Kontrollen »das Pandemiegeschehen zu managen«, wie man bald sagte. Die Krise zeigte die Notwendigkeit eines gut finanzierten Gesundheitssystems und Sozialstaats auf.

Hinzu kam, dass die Konjunkturprogramme der Pandemiezeit auch Sozialprogramme waren. Die USA verteilten über eine Billion US-Dollar an ihre Bevölkerung, was zur Folge hatte, dass die Armut einen historischen Tiefstand erreichte. Viele der Zahlungen gab es nur kurzfristig, sie zeigten aber, dass der Staat durchaus in der Lage wäre, Armut radikal zu verringern. Auch in Deutschland gab es zusätzliche temporäre Leistungen, etwa die erweiterte Finanzierung der Kurzarbeit, die sich der deutsche Staat allein bis zum vergangenen Sommer fast 40 Milliarden Euro hat kosten lassen.

Linke kritisieren natürlich zu Recht, wie ungenügend solche Maßnahmen angesichts der krassen Unterschiede in der Klassen­gesellschaft sind. Arme Menschen werden häufiger krank und sterben durchschnittlich jünger. Die Coronakrise verschärfte diese Ungleich­heiten. Auch stand nie auch nur zur Diskussion, dass von den ausgegebenen Rekordsummen ein paar Krumen für Hartz-IV-Empfänger abfallen sollten, während die Kurzarbeiterzuschüsse ebenso wie viele andere Staatshilfen vor allem den Unternehmen nützten. Dennoch machten viele die Erfahrung, dass ihr Staat sie vor den negativen Folgen der Krise schützen konnte.

Um sich die Bedeutung der staatlichen Intervention in Deutschland klarzumachen, lohnt der Vergleich mit der Lage der Menschen in den unteren Etagen der Weltwirtschaft, zum Beispiel der Beschäftigten in der Textilindustrie Südasiens. In seinem kürzlich erschienen Buch »Welt im Lockdown – Die globale Krise und ihre Folgen« beschreibt der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, wie Arbeiter in Bangladesh vor ihren Fabriken protestieren mussten, um, nachdem die europäischen Abnehmer ihre Aufträge gekündigt hatten, zumindest ihren ausstehenden Lohn zu erhalten. Schlimmer traf es informell Beschäftigte, etwa solche, die zu Hause Stückarbeit leisten. »Allein in Pakistan gab es schätzungsweise 12 Millionen Heimarbeiter, die zwölf Stunden am Tag für weniger als 40 Cent pro Stunde schufteten und die alle in ihrer Existenz bedroht waren«, schreibt Tooze. Weil viele dieser Arbeiter Mikrokredite für ein Haus abbezahlten, bedeutete die plötzliche Arbeitslosigkeit für sie den Ruin.

Vor einem derart heftigen Durchschlagen der Krise schützen die reichen Länder die meisten ihrer Bewohner. Doch auch ihre Ausgabenprogramme waren keineswegs linke Wirtschafts­reformen, sondern dienten – worauf Thomas Schwendener hinweist – primär dazu, die Finanzmärkte zu stützen. Sie kamen deshalb vor allem den Vermögenden zugute. Die »massiven wirtschaftspolitischen Eingriffe des Jahres 2020 waren wie die des Jahres 2008 janusköpfig«, schreibt auch Adam Tooze. Zwar »sprengte ihr Ausmaß die Fesseln neoliberaler Zurückhaltung«, weshalb sie als »Vorboten eines neuen Regimes jenseits des Neoliberalismus erscheinen«. Doch seien die Eingriffe »von oben« erfolgt und »politisch nur deshalb denkbar, weil es keine Heraus­forderung von links gab«.

Während Millionen Hunger litten, »war 2020 für die Hochvermögenden das finanziell erfolgreichste Jahr in der Menschheitsgeschichte«, resümierte der Ökonom Marcel Fratzscher in der Zeit. Auch in Deutschland sei der Financial Times zufolge 2020 die Zahl der Milliardärinnen und Milliardäre um 29 auf 136 gestiegen, ihr Vermögen wuchs um mehr als 100 Milliarden Euro, obwohl die Wirtschaftsleistung insgesamt zurückging.

Diese Zahlen weisen darauf hin, warum der sogenannte Neoliberalismus in Krisenzeiten stets außer Mode gerät. Laufen die Geschäfte gut, fordern die Lautsprecher des Kapitals Deregulierung und eine Entfesselung der Märkte; laufen die Geschäfte weniger gut, fordern sie Austerität und Lohnzurückhaltung. Wenn aber die Wirtschaft einbricht, wird plötzlich die Notwendigkeit eines starken Staats wiederentdeckt, der mit Milliarden die Märkte stabilisiert.

Trotzdem spricht auch Adam Tooze von einer tieferen Krise des Neoliberalismus. Er meint damit aber keine linke Wende in der Politik, sondern eine krisenbedingte Ausweitung der Staatsinterventionen. Die in der Pandemie nö­tigen staatlichen Maßnahmen hätten »Trennlinien« überschritten, »die für die politische Ökonomie des letzten halben Jahrhunderts grundlegend waren, Linien, die die Wirtschaft von der Natur, die Ökonomie von der Sozialpolitik und von der Politik an sich trennten«, schreibt er. Er unterscheidet vier simultane Entwicklungen – die Pandemie, die Wirtschaftskrise, die Klimakrise und den Aufstieg des chinesischen Staatskapitalismus –, die neoliberale Dogmen in der Wirtschaftspolitik in Frage stellten.

Alle diese Herausforderungen machen mehr Staatsintervention nötig, etwa in Form von Wirtschaftsregulierung, Investitionen in erneuerbare Energiequellen oder aktiver Industriepolitik. Auch die ideologische Sprache der Politik ändert sich. Statt von der Entfesselung der Märkte und den Verheißungen der Globalisierung zu reden oder von Austerität und Alternativlosigkeit, wie nach der Wirtschaftskrise, schwelgt das Herrschaftspersonal des Westens derzeit in Visionen einer durch gemeinsame Kraftanstrengung erreichbaren besseren Zukunft. Die EU verspricht einen »Green Deal« und US-Präsident Joe Biden verheißt mit dem Slogan »Build Back Better« ambitionierte Investitionen in Infrastruktur und Sozialstaat.

Doch auch wenn der aufgeklärte Flügel der Bourgeoisie derzeit einige Forderungen nach ökologischem Umbau und sozialer Gerechtigkeit zu erfüllen verspricht, handelt es sich vor allem um Versuche, mit Krisen umzugehen, ohne dass es zu einer Beeinträchtigung der Kapitalverwertung kommt. Die wachsende Rolle des Staats führt – wie schon in der Pandemie – nicht zu tieferen gesellschaftlichen Veränderungen, sondern soll das Bestehende schützen.

Überhaupt kann die Rhetorik einer stärkeren Staatlichkeit nicht nur progressive Forderungen aufgreifen, sondern auch rechte und nationalistische. 2018 zirkulierte in der EU, erfunden von der damaligen rechten Regierung Österreichs und aufgegriffen besonders vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der Slogan »Ein Europa, das schützt«. Macron wollte damit eine Antwort des politischen Establishments auf den Rechtspopulismus formulieren. Eine stärkere, souveräne EU, so Macron, müsse ihre Bevölkerung »vor den Schocks der modernen Welt schützen«, unter anderem durch härtere Kontrollen der Grenzen.

Der Staat ist ein Instrument, mit dem im Kapitalismus soziale und allgemeinwohlorientierte Maßnahmen durchgesetzt werden können, sichert aber primär die Grundlagen für die Geschäfte der Kapitalistenklasse. Auch verfolgt er vor allem nationale Interessen, selbst wenn es um globale Probleme wie die Pandemie oder den Klimawandel geht, von Armut und Unterentwicklung ganz zu schweigen. Wenn der neue starke Staat vor allem dazu dient, im Interesse des Kapitals und bestenfalls noch der Mittelschicht der reichen und mächtigen Staaten auf die Herausforderungen unserer Zeit zu reagieren, mag sich das für die Linke anfühlen, als hätte sie Wind in den Segeln, aber gesellschaftliche Veränderungen wird es auf diesem Weg nicht geben.