In Dubai beginnt die Weltmeisterschaft im Schach

Das Spiel der Emire

Magnus Carlsen und Ian Nepomnjaschtschij kämpfen um die Weltmeisterschaft im Schach. Die »Jungle World« berichtet – auch in den nächsten Wochen – über das diesjährige Match, das vom 24. November bis zum 16. Dezember im Rahmen der Expo 2020 in Dubai stattfindet.

Seit Bobby Fischer 1972 Boris Spasskij bei der Schachweltmeisterschaft in Reykjavik besiegte und damit die russische Hegemonie im Schach brach, ist der Kampf um den Weltmeistertitel ein gesellschaftliches Ereignis, das weit über die Schachwelt hinaus rezipiert wird. Auch das anstehende Match um die Schachweltmeisterschaft vom 24. November bis zum 16. Dezember im Rahmen der aufgrund der Covid-19-Pandemie verschobenen Expo 2020 in Dubai wird weltweit mit großer Spannung erwartet: Der seit 2013 amtierende Weltmeister Magnus Carlsen aus Norwegen stellt sich dem Herausforderer Ian Nepomnjaschtschij aus Russland.

Schach ist derzeit womöglich populärer als je zuvor. Die Online-Schachportale verzeichnen seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie einen großen Mitgliederzuwachs, die Netflix-Serie »Queen’s Gambit« hat zahllose neue Spielerinnen inspiriert und Twitch-Streams erreichen ein bisher unerschlossenes Publikum. Profischach zieht Nutzen aus diesem Hype: Es gibt neue Online-Turniere, zumeist in kurzen Zeitformaten mit beeindruckenden Preisgeldern, Kurse über Eröffnungstheorien verkaufen sich rasant und der eine oder andere Profispieler ist selbst zum Streamer geworden.

So ungleich ihre Spielstile scheinen, haben die beiden Kontrahenten um die Weltmeisterschaft tatsächlich viel gemeinsam: Sie sind zum Beispiel aus vollem Herzen Gamer.

Gleichwohl läuft das Turniergeschäft weiter wie zuvor. Tatsächlich hat der Weltverband Fide (Fédération Internationale des Échecs) sich bis zuletzt gesträubt, auf die Covid-19-­Pandemie zu reagieren. Das Kandidatenturnier, mit dem ermittelt wird, wer gegen den Weltmeister antritt, fand unter gesundheitsgefährdenden Bedingungen statt, bis es schließlich ein halbes Jahr lang unterbrochen werden musste. Seit April 2021 steht Ian Nepomnjaschtschij als Sieger des Kandidatenturniers fest.

Er war nicht der Favorit. Die meisten Kommentatorinnen räumten dem Sieger des Kandidatenturniers 2018, Fabiano Caruana (USA), und dem brillanten Ding Liren (China) die besten Chancen ein. Beide hatten jedoch eine schwache erste Turnierhälfte. Ding litt stark unter den Pandemiebedinungen in China, so dass er wohl in schlechter Form antrat. Nepomnjaschtschij übernahm überraschend die Führung in der ersten Turnierhälfte – gemeinsam mit dem Franzosen Maxime Vachier-Lagrave, der nur als Nachrücker für den Aserbaidschaner Teymur Racabov am Turnier teilnahm. Dieser hatte aufgrund der Covid-19-Pandemie auf seine Teilnahme verzichtet. In der zweiten Turnierhälfte ruinierte Caruana mit einer unglaublich originellen Eröffnung Vachier-Lagraves Hoffnungen auf das Titelmatch, so dass Nepom­njaschtschij sich schließlich durchsetzen konnte. Carlsen war einer der wenigen, der diese Sensation für wahrscheinlich gehalten hatte: Ende 2019 hatte er in einem Interview Nepom­njaschtschij an erster Stelle als möglichen Turniersieger genannt.

Diese korrekte, wenn auch ungewöhnliche Prognose spricht für Carlsens Fähigkeit, seine Gegner genau einzuschätzen. Da zu den wichtigen Schachturnieren zumeist lediglich die besten Spieler eingeladen werden, treten oft über Jahre hinweg immer wieder dieselben gegeneinander an. Eine genaue Kenntnis der Gegner ist da essentiell, um bestehen zu können. Auch Caruana bescheinigte Carlsen in einem Interview Anfang November, darin sehr gut zu sein: »Das habe ich noch nie bei einem anderen Spieler gespürt – dass er sich tatsächlich hinsetzt und herausfindet, was ich gut und schlecht kann, und versucht, genau diese für mich schlechten Positionen anzustreben.«

Überhaupt ist Carlsen mittlerweile ziemlich routiniert darin, seinen Titel zu verteidigen. Seit er 2013 den indischen Weltmeister Viswanathan Anand besiegte, konnte er sich in Matches gegen Anand, Sergej Karjakin (Russland) und Caruana behaupten. Seit 2010 führt Carlsen die Elo-Rangliste an, die Weltrangliste im Schach, für die nach bestimmten Kriterien Punkte ermittelt werden, der sogenannte Elo-Wert. Der Norweger hat das höchste Rating, das jemals erreicht wurde, die längste Serie ohne verlorene Spiele (125), und er ist gleichzeitig Weltmeister in den Zeitformaten Rapid und Blitz – Carlsen gilt als einer der besten Spieler aller Zeiten. Seit etwa einer Dekade ist er der ebenfalls sehr starken Konkurrenz ständig das entscheidende Stück voraus. Im anstehenden Match ist er daher der klare Favorit.

Carlsen und Nepomnjaschtschij traten das erste Mal 2002 bei der Jugendeuropameisterschaft für unter Zwölfjährige gegeneinander an und sind sich seitdem regelmäßig begegnet. In der Online-Datenbank Chessgames.com finden sich 77 Begegnungen. Während Carlsen über alle Zeitkontrollen hinweg in direkten Duellen führt, kann Nepomnjaschtschij im klassischen Schach als einziger Spieler weltweit mit vier zu eins Siegen auf eine positive Bilanz gegen den Weltmeister verweisen. Erst 2016 konnte Carlsen das erste klassische Spiel zwischen den beiden für sich entscheiden.

Allerdings hat sich in den vergangenen Jahren viel verändert: Nepomnjaschtschij, der für seinen genialen, aber erratischen, bisweilen ungeduldigen Stil bekannt war, hat nach Einschätzung anderer Spieler mittlerweile zu einer reiferen Spielweise gefunden. Carlsen hat seinen Stil ebenfalls perfektioniert: Man schreibt ihm ein besonders gutes Gedächtnis, ein scheinbar unbegrenztes Repertoire an Eröffnungen und ein so intuitives wie präzises Positionsverständnis zu. Letzteres bringt er immer wieder im Endspiel zur Geltung, in dem er das kleinste positionale Ungleichgewicht zu nutzen weiß, um ein Spiel für sich zu entscheiden. »Carlsen is squeezing water from stone«, wird der für seine Gegner oft qualvolle endgame grind des Norwegers häufig beschrieben.

So ungleich ihre Spielstile scheinen, haben die beiden tatsächlich viel gemeinsam. Sie sind zum Beispiel aus vollem Herzen Gamer. Während Nepomnjaschtschij vor einigen Jahren kurz davor stand, professioneller Spieler des Battle-Arena-Spiels »Dota 2« zu werden, belegte Carlsen sogar kurzzeitig den ersten Platz des von über sieben Millionen Spielern gespielten Fußballmanagerspiels »Fantasy Premier League«. Zudem lässt es sich Carlsen auch eine Woche vor Beginn der Weltmeisterschaft nicht nehmen, den ersten Platz in den Kategorien Bullet und Blitz des beliebten Online-Schachportals Lichess zu verteidigen. Der Norweger kann nur als überaus ehrgeizig beschrieben werden, ständig sucht er die Herausforderung.

Es spricht alles für ein spannendes Duell; zu hoffen bleibt, dass es nicht wie im Weltmeisterschaftskampf 2018 nur zu Remisen in der klassischen Zeitkontrolle kommen wird. Um das zu verhindern, hat der Weltverband Fide zwei Neuerungen eingeführt: Den Wettkampf gewinnt, wer in 14 Partien mehr Punkte macht – zuvor lief das Match nur über zwölf Partien –, und die Spieler dürfen sich erst nach dem 40. Zug auf ein Remis einigen.

Wer die Schachweltmeisterschaft zusätzlich zu der leicht verzögerten Berichterstattung in der Jungle World verfolgen will, dem seien die Post-mortem-Analysen auf Youtube von »Agadmator« und die des Großmeisters Daniel King (»Powerplaychess«) sowie die Live-Kommentierung des Schach-Servers Chess24 mit Großmeister David Howell empfohlen.