Argentiniens Regierungskoalition schnitt bei den Kongresswahlen schlecht ab

Kaum verloren ist fast gewonnen

Das peronistische Regierungsbündnis Argentiniens konnte bei Zwischen­wahlen ein Debakel gerade noch abwenden. Interne Spannungen nehmen jedoch zu, die rechte Opposition hofft auf einen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2023.

Es gibt Siege, die im Grunde Niederlagen sind, und es gibt Niederlagen, die wie Siege erscheinen. Einen solchen Pseudosieg errang das in Argentinien regierende peronistische Bündnis Frente de Todos (Front für alle, FdT) bei den Kongresswahlen am 14. November. Die Bevölkerung war dazu aufgerufen, die Hälfte der Sitze der Abgeordnetenkammer, des Unterhauses des argentinischen Parlaments, sowie ein Drittel des Senats, des Oberhauses, neu zu besetzen. Die peronistische Koalition, die unter Präsident Alberto Fernández seit 2019 regiert, kam landesweit zwar nur auf 34 Prozent der Stimmen, während das konservative Oppositionsbündnis Juntos por el Cambio (Gemeinsam für den Wandel, JxC) 42 Prozent erhielt. Die Verluste fielen jedoch wesentlich geringer aus, als es das Ergebnis der Vorwahlen im September hatte vermuten lassen.

An solchen Vorwahlen müssen alle Parteien teilnehmen, um sich für die Beteiligung an Kongresswahlen zu qualifizieren. Nur Parteien, die in Vorwahlen mindestens 1,5 Prozent der Stimmen erreicht haben, werden zugelassen. Im September hatte der FdT in vielen Provinzen im Landesinneren und vor allem in der bevölkerungsreichsten Provinz Buenos Aires so weit hinter JxC gelegen, dass die Regierung fürchten musste, nicht nur das für die Bestimmung der Tagesordnung nötige Quorum im Senat, sondern auch den Vorsitz in der Abgeordnetenkammer zu verlieren. Ersteres ist zwar tatsächlich eingetreten, doch in der Abgeordnetenkammer bleibt der FdT die stärkste Fraktion. Der Regierung war es gelungen, ins­besondere in der Provinz Buenos Aires aufzuholen. Lag ihr Bündnis bei den dortigen Vorwahlen noch gut vier Prozentpunkte hinter der Opposition, waren es bei den Wahlen nur noch knapp eineinhalb.

Die Spielräume der Regierung sind marginal, vor allem weil 2022 die Rückzahlung von 19 Milliarden US-Dollar an den Internationalen Währungsfonds ansteht.

Das Ergebnis der Vorwahlen hatte die schwelenden internen Konflikte der Regierung offen zutage treten lassen. Das 2019 geschlossene peronistische Bündnis FdT hat unter anderem Cristina Fernández de Kirchner (Präsidentin von 2007 bis 2015), ihren innerparteilichen Kontrahenten Alberto Fernández – beide gehören dem Partido Justicialista an – und Sergio Massa vom Frente Renovador zusammengebracht und sich auch die Unterstützung der peronistischen Gouverneure, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen gesichert. Manche hofften schon, der Peronismus könne im FdT seine alte Schlagkraft wiedererlangen.

Doch die Regierung steht unter Druck. Argentinien steckt seit drei Jahren in der Rezession, die Inflation beträgt über 50 Prozent und die offizielle Arbeits­losenrate knapp zehn Prozent. Dazu kommen die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, die ökonomisch vor allem den informellen Sektor hart getroffen haben. Die Spielräume der Regierung sind marginal, vor allem weil 2022 die Rückzahlung von 19 Milliarden US-Dollar an den Internationalen Währungsfonds (IWF) ansteht. Die Tranche ist Teil einer Kreditvereinbarung über 44 Milliarden US-Dollar, die Fernández’ Vorgänger Mauricio Macri (JxC), Prä­sident von 2015 bis 2019, 2018 mit dem IWF geschlossen hatte. Macri hatte ­damals einen Kredit über 57 Milliarden US-Dollar ausgehandelt, Fernández wollte nach seinem Amtsantritt im Dezember 2019 aber nur 44 Milliarden US-Dollar vom IWF annehmen.

Dass Argentinien die 2022 fälligen 19 Milliarden US-Dollar nicht wie vorgesehen wird zahlen können, ist offensichtlich. Also wird die Regierung neu verhandeln müssen, versucht aber, zu große Zugeständnisse zu vermeiden. Dass Wirtschaftsminister Martín Guzmán die Ausgaben für Sozialprogramme in der Pandemie reduzierte, nehmen ihm viele Argentinierinnen und ­Argentinier übel.

Präsident Fernández hat sich bisher geziert, sich mit eigener Machtbasis und eigenem Profil vom sogenannten Kirchnerismus abzusetzen, also der Strömung von Néstor Kirchner (Präsident von 2003 bis 2007) und seiner Nachfolgerin und Ehefrau Cristina Fer­nández de Kirchner. Nun gerät er stärker unter Druck. Fünf kirchneristische Minister boten nach dem schlechten Ergebnis bei den Vorwahlen ihren Rücktritt an; dabei handelte es sich um eine Art Kabinettsrevolte der Fraktion um Vizepräsidentin Fernández de Kirchner. Das Resultat war ein Kompromiss: Wirtschaftsminister Guzmán, ein wichtiger Getreuer von Präsident Fernández, durfte bleiben, dafür wurde unter anderem der Kabinettsminister aus­getauscht, das wichtigste Scharnier zwischen Präsident und Kabinett. Einige weitere Rochaden haben den Einfluss der Kirchneristen noch ausgebaut. Das dürfte dazu beigetragen haben, eine noch schwerere Niederlage des FdT bei der Wahl abzuwenden.

Horacio Rodríguez Larreta, der Gouverneur von Buenos Aires, das als autonome Stadt eine eigene Provinz im Bundesstaat Argentinien darstellt, und ehemals Kabinettsminister unter Macri, gilt als derzeit aussichtsreichster Kandidat der rechten Opposition für die Präsidentschaftswahlen 2023. JxC profitiert von der Unzufriedenheit der Bevölkerung, die sich von den Peronisten mehr erhofft hatte, und zieht auch konservative Anhänger der Peronisten an, die sich an der liberalen Gesellschaftspolitik der Regierung stoßen. Doch auch in der Opposition streiten sich gemäßigte und radikalere Kräfte. Die Regierung Macris hat nicht wenige Rechte in Argentinien enttäuscht, die erhoffte gesellschaftliche Wende hatte sie nicht gebracht. Am Ende von Macris Amtszeit stand Argentinien – wieder einmal – kurz vor dem Bankrott.

Diese Enttäuschung fängt unter anderem der Ökonom Javier Milei auf. Dieser, der damit kokettiert, seine auffällige Frisur entstehe, weil er nach dem Duschen mit offenem Fenster Auto fahre, damit ihn die »unsichtbare Hand« frisiere (ein Verweis auf Adam Smiths Idee von der »unsichtbaren Hand des Marktes«), sieht im Staat einen Feind und behauptet, der Sozialismus habe 150 Millionen Menschen umgebracht. Donald Trump und Jair Bol­sonaro sind seine Vorbilder. Seine Anhänger sind insbesondere junge Menschen, denen der rebellische Habitus Mileis zu gefallen scheint. Er ist Vorsitzender des wirtschaftsliberalen Parteienbündnisses La Libertad Avanza (Die Freiheit schreitet voran), das in der Stadt Buenos Aires 17 Prozent der Stimmen bekam und in der Provinz immerhin 7,5 Prozent. Milei zog mit vier Partei­kollegen ins Abgeordnetenhaus ein.