Der Film »Bloody Nose, Empty Pockets« schildert die letzten Stunden einer Bar

Zu schön, um wahr zu sein

Leben in der Bar: Für die Besucher des »Roaring 20’s« in Las Vegas hat dieses bald ein Ende, denn das Etablissement muss schließen. Der Film »Bloody Nose, Empty Pockets« dokumentiert die letzte Nacht in der Kneipe.

In Michael Curtiz’ großem Melodrama »Casablanca« aus dem Jahr 1942 unterhält Rick (Humphrey Bogart), ein hartgesottener Veteran des spanischen Bürgerkriegs, in der titelgebenden marokkanischen Metropole sein »Café Américain«. Dort treffen sich all jene, die politisch, materiell und weltanschaulich ihre Heimat verloren haben: Widerstandskämpfer gegen das Vichy-Regime und ­Nazideutschland, Exilanten, Gestrandete ohne Visa. Einmal verschlägt es den von Conrad Veidt gespielten Nazimajor Strasser in Bogarts Bar und er fängt an, unbequeme Fragen zu stellen. Was Ricks Nationalität sei, will er wissen, woraufhin Rick lässig erwidert, er sei Trinker. Das mache ihn zu einem Weltbürger, kommentiert der korrupte Polizeichef Renault prompt von der Seite und hat damit durchaus recht.

Ebenso wie das Kino lässt sich auch die Bar oder die Kneipe zu den, wie Siegfried Kracauer sie nannte, modernen »Obdachlosenasylen« des urbanen Raums zählen. Nicht nur die filmische Massenkultur, auch die Populärmusik hat sich immer an der Frage abgearbeitet, was Menschen in Bars und Kneipen hineintreibt, was hinter deren Türen lockt und was sich offenbar draußen selten finden lässt. So textete in den siebziger Jahren Marius Müller-Westernhagen in einem seiner lyrisch lichteren Momente so simpel wie überzeugend: »In der Kneipe fühl ich mich frei.« Der österreichische Sänger Rainhard Fendrich formulierte 1982 seine Hymne auf die späten Stunden an der Bar, »Zwischen eins und vier«, etwas differenzierter, gelangte aber zu ähnlichen Schlüssen: »Des graue Licht is no so weit / Es trennt uns fast a Ewigkeit / Von der Vernunft, die nüchtern macht / Und jede Wärme, die ma g’spür’n / Sie lasst uns wachs’n, lasst uns blüh’n / Bis der verdammte Zwang erwacht.«

Mit dem Zusammenspiel von Inszenierung und Dokumentarismus schließt »Bloody Nose, Empty Pockets« an aktuelle Debatten zur Ethik des Dokumentarfilms an.

Die in New Orleans lebenden Filmemacher und Brüder Bill Ross IV und Turner Ross haben ihren neuen Film »Bloody Nose, Empty Pockets«, der bereits 2020 Premiere feierte, gänzlich einer Bar namens »Roaring 20’s« und deren Stammkundschaft gewidmet. Es handelt sich um eine sogenannte dive bar, das US-amerikanische Pendant zur Eckkneipe. Hier trinken ein vom Alkoholismus gezeichneter gescheiterter Schauspieler, ein schwarzer Armeeveteran und auch ein paar Jüngere miteinander. Es tummeln sich Mädchen, die sich selbst als white trash bezeichnen, ein tätowierter Musiker und ein streitsüchtiger Typ im Cordanzug, der sich für so etwas wie einen Literaten hält. Im Hinterhof des Gebäudes lungert der jugendliche Sohn der Barfrau mit seinen Freunden herum, kifft und isst Trockenfleisch.

Der Film hält die Abschiedsfeier des »Roaring 20’s« über den Zeitraum einer Nacht bis zur Schließung im Morgengrauen dokumentarisch fest. Dabei versucht er, sich den ­Lebenswegen der Charaktere anzunähern, die im Barraum zu einer fragilen Gemeinschaft werden, die sie anderswo nicht finden könnten. Diesem Anspruch wird der Film auf ganz eigene Weise gekonnt gerecht. »Bloody Nose, Empty Pockets« ist zweifellos umwerfend gefilmt. Die Kamera hält in langen Großaufnahmen auf zerfurchte Gesichter drauf, vertraut über weite Strecken nur auf die vorhandenen Lichtquellen und weiß die Anordnung des Raums, die Barspiegel, den Tresen, spontan für ihre Bewegungen zu nutzen.

Schon in der ersten Viertelstunde machen sich wiederkehrende Momente der Irritation bemerkbar. Die Außenaufnahmen suggerieren durch Billboards und Straßenschilder, dass das »Roaring 20’s« in einem ärmeren Bezirk von Las Vegas beheimatet sei. Warum sprechen aber mehrere der Gäste drinnen einen Südstaatendialekt des amerikanischen Englisch? Was hat es mit diesem MacGuffin auf sich, der ominösen braunen Papiertüte, die ein Gast bei seiner Ankunft hinter der Bar ­deponiert und von der man ostentativ verkündet, man wolle gar nicht wissen, was darin sei?

Spätestens wenn der Sohn der Barfrau die Gelegenheit nutzt, aus dem hinteren Lagerraum eine Kiste Bier zu stehlen, offenbart »Bloody Nose, ­Empty Pockets« einen Hybridcharakter zwischen Dokumentarismus und Fiktion. Dieser durchzieht den Film konsequent, beginnend auf der geographischen Ebene: Anders als erwartet, befindet sich das »Roaring 20’s« mitnichten in Las Vegas, sondern in einem Vorort von New Or­leans, wo alle Innenaufnahmen entstanden sind. Viel mehr soll an ­dieser Stelle nicht verraten werden.

Mit diesem Zusammenspiel von Inszenierung und Dokumentarismus schließt »Bloody Nose, Empty Pockets« an aktuelle Debatten zur Ethik des Dokumentarfilms an, die in jüngster Zeit auch Deutschland erreicht haben. Man denke an Elke Lehrenkrauss, die Anfang des Jahres den Deutschen Dokumentarfilmpreis für ihren Film »Lovemobil« (2019) zurückgab. In diesem porträtierte sie den Alltag zweier Sexarbeiterinnen; es kam aber heraus, dass »Lovemobil« über weite Strecken inszeniert gewesen war und die Hauptfiguren von Darstellerinnen gespielt worden waren. Die Brüder Ross gaben in der Presse hingegen recht freimütig zu, dass ihr Film ein knapp budgetiertes Experiment in den Grenzbereichen des Dokumentarfilms sei.

Die Authentizität im Dokumentarfilm kann immer nur eine vermeintliche sein. Sobald eine Filmkamera etwas aufzeichnet, entwendet man das aufgenommene Material der Realität und überführt es in den Bereich des Erzählens und der Fiktion. Den Dokumentarfilm aus dieser Sachlage zu lösen, ist unmöglich. Schon Robert J. Flaherty, der US-amerikanische Pionier des Dokumentarfilms und Regisseur von »Nanook of the North« aus dem Jahre 1922, wollte das Inszenieren partout nicht missen. Entscheidend ist allerdings, in wessen Dienst ein Dokumentarfilmer seine Annäherungsversuche an die Realität stellt. Im Fall von »Love­mobil«, laut Rüdiger Suchsland vom Filmmagazin Artechock »eigentlich ein gefälliger Film«, scheint eine engagierte Filmemacherin versucht zu haben, ein von der staatlichen Förderung abgesegnetes Konfektionsstück anzufertigen.

»Bloody Nose, Empty Pockets« stellt sich geschickter an und nutzt seine inszenierte Rahmenhandlung, um den Charakteren möglichst viel Raum zu geben, den sie dazu nutzen, Alkohol und alle möglichen anderen Substanzen zu konsumieren. Die Geschichten und Beziehungen, die sich auf der Grundlage dieses Exzesses entwickeln, hätte eine wortwörtlich nüchterne Dokumentarerzählung schwerlich stimulieren können. Das »Roaring 20’s« entwickelt sich im Film immer mehr zu einem utopischen Raum. Zwischen dem Zigarettenqualm, den Tränen und den Pfützen aus verschüttetem Whisky entsteht ein Bild der USA, das Diagnosen gesellschaftlicher Spaltung widerspricht. Hier treffen sich Menschen, die ihre Erfahrungen miteinander teilen, die sich irren, sich streiten und doch fühlen, dass sie irgendwie zusammengehören.

Ganz ähnliche Gedanken finden sich in dem vom Kommunikationswissenschaftler Franz Dröge und dem Soziologen Thomas Krämer-Badoni 1987 vorgelegten Buch »Die Kneipe. Zur Soziologie einer Kulturform«. Das Trinken in der Kneipe ­begreifen die Autoren als »Medium ­einer zweckfreien, sich in Gemeinschaftlichkeit und Gespräch erfüllenden Vergesellschaftung«. Das klingt beinahe zu schön, um noch wahr zu sein. Wie die Kinos kämpfen auch die Kneipen derzeit darum, als öffentliche Orte zu überleben, und das nicht nur aufgrund der Pandemie. Als »Obdachlosenasyle« für jene, denen der gesellschaftliche Zusammenhang weggebrochen ist, sind sie der heutigen neoliberalen Betriebsamkeit selbstverständlich ungeheuer geworden und gelten als Orte eines modernen Barbarentums. Der etwas reißerische Filmtitel der Brüder Ross wirkt da wie ein ironischer Kommentar. Denn tatsächlich schlägt sich hier niemand die Nase blutig.

Bloody Nose, Empty Pockets (USA 2020). Regie: Bill Ross IV und Turner Ross. Darsteller: Michael Martin, Cheryl Fink, Marc Paradis, John Nerichow und viele andere. Filmstart: 2. Dezember