Ein Gespräch mit Hamid ­Nowzari über Hinrichtungen an Oppositionellen im Iran 1988

»Das war ein Verbrechen gegen die Menschheit«

Präsident im Todeskomitee. Hamid Nowzari, Geschäftsführer des Vereins iranischer Flüchtlinge in Berlin, spricht über die Massenhinrichtungen an politischen Gefangenen im Iran 1988, die derzeit in einem Prozess in Schweden aufgearbeitet werden.
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Was geschah im Sommer 1988 in iranischen Gefängnissen?

Nach acht Jahren Krieg stand damals der Waffenstillstand zwischen dem Iran und dem Irak kurz bevor (der Erste Golfkrieg, auch Iran-Irak-Krieg genannt, dauerte vom 22. September 1980 bis zum 20. August 1988, Anm. d. Red.), als die oppositionellen iranischen Volksmujahedin vom Irak aus noch eine letzte Offensive begannen. Der Angriff endete schnell mit einer totalen Niederlage der Volksmujahedin. Aber zwei Tage später erließ der iranische Führer Ayatollah Khomeini eine Fatwa, die besagte, dass alle in iranischen Gefängnissen sitzenden Angehörigen der Volksmujahedin vor einem vierköpfigen Komitee die Frage beantworten sollten, ob sie immer noch ihren politischen Überzeugungen anhängen. Wer bejahte, wurde umgehend hingerichtet.

»Der neue Präsident des Iran, Ebrahim Raisi, war damals einer der Funktionäre, die im Todeskomitee saßen.«

Danach kam es noch zu einer zweiten Welle von Hinrichtungen Ende August und Anfang September nach demselben Muster, nun von Angehörigen linker Gruppierungen aller Couleur. Im Gegensatz zu den vorangehenden Morden an den Volksmujahedin waren nur Männer betroffen; es waren wohl um die 1 000. Insgesamt wurden, soweit wir wissen, zwischen 4 000 und 4 500 Personen hingerichtet.

Der Iran kennt eine lange Gewaltgeschichte. Worin liegt die besondere Bedeutung der Morde von 1988?

Das waren auch für den Iran keine normalen Hinrichtungen. Man hat sie geheim gehalten; sonst standen die Hinrichtungen von sogenannten Volksfeinden sogar in der Zeitung. Nun wurden die Besuchsmöglichkeiten durch Familienangehörige auf einmal ausgesetzt, die Angehörigen bekamen Ausflüchte zu hören, und dann, nach ein paar Monaten, wurden die Familien plötzlich angerufen, sie sollten die Habseligkeiten der Gefangenen im Evin-Gefängnis (im Norden Teherans, Anm. d. Red.) abholen. Es gab keine Totenscheine und es durfte nicht öffentlich getrauert werden. Durch einen Zufall kam immerhin heraus, wo sie die Linken begraben hatten. Das war an einem Ort im Osten von Teheran, den man »Friedhof der Verdammten« nannte, ein Friedhof für die »Gottlosen«. Dort hatte man Leichen entdeckt, die über Nacht notdürftig verscharrt worden waren. Anhand von Fotografien konnten einige der Toten identifiziert werden. Rund um diesen Friedhof bildete sich auch eine kleine Bewegung von Müttern und Angehörigen, die dort regelmäßig freitags von den Behörden vertrieben wurden, wenn sie zum Gedenken zusammenkamen.

Bedenken Sie den Schock für die Familien, die haben das ja nicht erwartet, ihre Angehörigen saßen schließlich, zu Haftstrafen verurteilt, im Gefängnis. Bei einigen der Hingerichteten war die Haftzeit fast vorbei. Diese Gefangenen waren seit Anfang der achtziger Jahre in Haft, damals waren alle Oppositionsparteien verboten worden. Zwischen 1981 und 1984 wurden um die 10 000 politische Gefangene hingerichtet, aber die Hingerichteten von 1988 hatten ja wie gesagt ihr Urteil längst bekommen. Das waren junge Leute, die Ältesten waren 1988 knapp über 30. Das war ein Verbrechen gegen die Menschheit. Die Gefangenen wurden de facto wie Geiseln behandelt, die hatten ja nichts mit der Offensive der Volksmujahedin zu tun, sie saßen seit Jahren im Gefängnis. Und das war eine Art Inquisition, die linken Gefangenen hat man etwa gefragt, ob sie an Gott glauben.

Der designierte Nachfolger des Obersten Führers Ruhollah Khomeini, Ayatollah Hussein-Ali Montazeri, hat damals die Morde verurteilt.

Er war der einzige aus dem Establishment, der sich dagegen ausgesprochen hat – der sie überhaupt bestätigt hat. Nach den Hinrichtungen zitierte ihn die BBC im Herbst 1988 als ­Bestätigung der Morde, daraufhin wurde er als Nach­folger Khomeinis abgesetzt. Montazeri hat später in ­seiner Autobiographie auch Zahlen genannt und ein Foto von Khomeinis Fatwa veröffentlicht, daher kennen wir sie überhaupt. 2016 hat sein Sohn eine Audiokassette veröffentlicht, auf der eine Diskussion unter den Be­teiligten über die Morde dokumentiert ist. Danach musste auch das Establishment im Iran beginnen, über die Morde zu sprechen. Es hat sie verteidigt.

Wir kennen auch die Namen der Mitglieder des Komitees, das die Gefangenen befragte und für die Auswahl der Hingerichteten verantwortlich war. Eines der Mitglieder (Mostafa Pour-Mohammadi, Anm. d. Red.) wurde später Justizminister – der Blutrichter ausgerechnet als Leiter der Justiz, das war für viele Iranerinnen und Iraner schon unerträglich. Aber mit dem neuen Präsidenten Ebrahim Raisi hat das noch einmal eine ganz andere Dimension erreicht: Er war damals stellvertretender Generalstaatsanwalt von ­Teheran und ebenfalls Mitglied im Todeskomitee, das über Leben und Tod der Gefangenen entschied. Raisi hat bei seiner ersten Pressekonferenz als Prä­sident gesagt, er sei stolz auf seine Beteiligung. Das ist nun ein Problem für den Angeklagten Hamid Nouri in Stockholm, schließlich leugnet er, dass die Morde überhaupt stattgefunden haben. Das Hin und Her hat aber auch System. Die Gefängnismorde werden auch gerne mit dem vorangegangenen militärischen Angriff der Volksmujahedin vermischt.

Hamid Nouri steht seit August in Stockholm vor Gericht. 2019 ist er in Schweden festgenommen worden. Was wird ihm vorgeworfen?

Verbrechen gegen die Menschheit können in Schweden nur verfolgt werden, wenn sie nach dem Jahr 2014 stattgefunden haben. Deshalb ist die Anklage sehr eng gefasst. Gegenstand des Prozesses sind nur die Vorgänge in dem Provinzgefängnis Gohardasht während zweier Wochen ab Ende Juli 1988. Nouri war dort als Vertreter der Staatsanwaltschaft für die »Betreuung« der Gefangenen zuständig. Zeugen berichten, er habe die Gefangenen ausgesucht, aus den Zellen geholt, zum Komitee und dann zur Hinrichtung gebracht. Ein Zeuge, der sagte, er sei für kurze Zeit im Hinrichtungsraum gewesen, will Nouri dabei gesehen haben, wie er sich aktiv an den Hinrichtungen beteiligte.

Wie äußert sich der Angeklagte? Ist er ein typischer Vertreter des Regimes im Iran?

Er sagt vor Gericht aus, obwohl seine Anwälte wollen, dass er schweigt. Er lässt sich bei seinen Aussagen von den Märchen aus 1 001 Nacht inspirieren: Der Iran habe das beste Justizsystem der Welt, er selbst sei wie ein Vater für die Gefangenen gewesen, natürlich seien alle Rechte der Gefangenen geachtet worden und so weiter. Die Morde selbst leugnet er, sie hätten gar nicht stattgefunden, seien eine Erfindung.

Er ist im Übrigen ein religiös überzeugter Anhänger des Regimes. Im Iran-Irak-Krieg war er zwei Jahre lang als Freiwilliger in Irakisch-Kurdistan eingesetzt. Dort beging das Regime gegen aufständische Kurden schwerste Menschenrechtsverbrechen. Er sagt selbst, er wollte dort eingesetzt werden, um die Konterrevolution zu bekämpfen. Danach ist er mit Anfang 20 in den Justizdienst übernommen worden, zuerst als Wächter im berüchtigten Evin-Gefängnis in Teheran.

Wer interessiert sich nach über 30 Jahren im Iran noch für die Ereignisse des Jahres 1988?

Da sind einmal die Hinterbliebenen – das Schicksal ihrer Angehörigen wird endlich vor einem Gericht aufgeklärt. Und es ist ein unabhängiges Gericht. Danach kann keiner mehr sagen, er wisse nichts darüber. Der neue Präsident des Iran, Ebrahim Raisi, war damals einer der Funktionäre, die im Todeskomitee saßen. Wie wird die Welt damit umgehen? Wie die EU? Das ist dann immerhin ein Urteil eines Gerichts eines ihrer Mitgliedsstaaten. Wird man das ernst nehmen?

Das mögen die großen Fragen sein, wichtig ist aber eben auch, die Freude und Hoffnung der Angehörigen zu ­sehen. Diese Morde wurden geleugnet, jetzt werden die Geschehnisse öffentlich gemacht, das ist eine neue Erfahrung. Es ist auch ein spannender Lernprozess. Auf einmal wird klar, man muss auch die eigenen Erinnerungen und Zeugnisse überprüfen. Es ist eine neue Art der Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.

Das Verfahren wird auch auf Persisch gestreamt, ständig hören Tausende Menschen aus dem Iran zu, die persischsprachigen Sender berichten über die Aussagen. Das staatlich organisierte Schweigen im Iran hat einen Riss bekommen. Die Angehörigen der Opfer von 1988 haben oft geklagt, dass die jüngeren Generationen sich nicht mehr für ihre Geschichte interessierten, nun verschränken sich diese Erfahrungen: Im Iran läuft gerade der Prozess wegen des Abschusses der ukrainischen Verkehrsmaschine durch die iranische Luftabwehr im Januar 2020. Es ist das Übliche: Die Angehörigen werden von der Verhandlung ausgeschlossen, die Anwälte bekommen keine Akten, es ist eine lächerliche Ver­anstaltung. Jetzt werden Parallelen klar, wie der Staat Dinge vertuscht und wie die Justiz die Menschen schikaniert. Iranerinnen und Iraner beobachten und diskutieren in den sozialen Medien mittlerweile auch aufmerksam die Verfolgung von NS-Verbrechern. Auch nach vielen Jahrzehnten, selbst wenn die Täter 90 oder 100 Jahre alt sind, muss man dem juristisch nachgehen. Man muss hartnäckig bleiben, diese Aufarbeitung ist wichtig für die Zukunft.

 

Hamid Nowzari ist Geschäftsführer des Vereins iranischer Flüchtlinge in Berlin, zu dessen Kernaufgaben die Erinnerung an die politische Verfolgung im Iran gehört. Wie schon beim Prozess zum »Mykonos-Attentat« in den neunziger Jahren, benannt nach dem im Auftrag des iranischen Geheimdiensts Vevak verübten Mordanschlag vom 17. September 1992 auf vier iranisch-kurdische Exilpolitiker im griechischen Restaurant »Mykonos« in Berlin-Wilmersdorf, beobachtet Nowzari intensiv entsprechende internationale Gerichtsprozesse gegen Vertreter der Islamischen Republik Iran. Am 10. August hat im schwedischen Stockholm der Prozess gegen Hamid Nouri wegen Beteiligung an den Massenhinrichtungen von Oppositionellen im Iran 1988 begonnen. Nouri arbeitete damals im Gefängnis Gohardasht in Karaj.