Linksradikale Gesundheitspolitik weist über den Kapitalismus hinaus

Krankenhaus und Emanzipation

Mit Blick auf den Krankenhaussektor lässt sich diskutieren, wie eine linksradikale Gesundheitspolitik aussehen könnte.

Linke Politik, die eine demokratische, über den Kapitalismus hinausweisende Perspektive beansprucht, kann sich nicht mit dem Ziel zufriedengeben, den unter kapitalistischen Bedingungen erwirtschafteten gesellschaftlichen Reichtum bloß anders zu verteilen. Sie muss mindestens anstreben, die Arbeit aus der Form der Lohnarbeit und damit von ihrem Zwangscharakter zu befreien, die Eigentumsfrage als eine des Kapitalverhältnisses zu stellen und die gewaltsame Dynamik des kapitalistischen Akkumulationszwangs zu beenden. Denn die Ungleichheit, die kapitalistische Klassengesellschaften notwendig kennzeichnet, steht in prinzipiellem Widerspruch zu einer Vorstellung von Demokratie als der Form einer Gesellschaft von Gleichen und Freien, in der die Produktion selbstbestimmt, herrschaftsfrei und damit eben demokratisch organisiert sein muss.

Am Beispiel des Gesundheitswesens lernt man schnell, sich von einfachen Vorstellungen von Emanzipation zu verabschieden.

So abstrakt ist das schnell formuliert. Was aber heißt das für das Gesundheitswesen? Das kann man am Beispiel des Krankenhaussektors diskutieren. Die Krankenhäuser waren in der Bundesrepublik bis Mitte der achtziger Jahre durch ein gesetzliches Gewinnverbot und die Art ihrer Finanzierung nicht gänzlich kapitalistisch organisiert. Das hat sich seither gründlich geändert. Spätestens seit die rot-grüne Bundesregierung 2004 das System der Fallpauschalen eingeführt und Marktmechanismen ausgeweitet hat, wurden die Krankenhäuser vollends dem kapitalistischen Betrieb unterworfen. Das gilt für die privatisierten Häuser wie für diejenigen, die sich weiterhin in öffentlicher oder freigemeinnütziger Hand befinden, also zum Beispiel von kirchlichen Trägern betrieben werden. Wie dysfunktional eine solche Organisation des Krankenhaussektors ist, zeigt sich nicht völlig bornierten Zeit­genossen augenfällig in der Covid-19-­Pandemie.

An den Reformvorschlägen für diesen Sektor lässt sich darlegen, worin der Unterschied zwischen einer sozialdemokratischen und einer linken, aber innerkapitalistischen Politik besteht, und man kann skizzieren, wie eine linke Politik aussehen könnte, die über den Kapitalismus hinausweist und auf eine Selbstorganisation der Gesellschaft zielt.

Außer der Linkspartei vertreten mit Blick auf den Krankenhaussektor fast alle Parteien im Wesentlichen wirtschaftsliberale Positionen. Sie wollen zwar inzwischen die Vorhaltekosten der Krankenhäuser besser finanzieren, ansonsten wollen sie den Sektor zen­tralisieren und weiter privatisieren. Zweifel an Marktmechanismen äußern sie kaum.

Die SPD behauptet immerhin, erkannt zu haben, dass die sogenannte Ökonomisierung des Krankenhaussektors ein Problem darstelle. Dass sie selbst am profitorientierten Umbau dieses Sektors beteiligt war, erwähnt sie freilich nicht. Ihre konkreten Vorschläge bestehen dar­in, kleine Korrekturen vorzunehmen, an den grundsätzlichen Mechanismen aber nichts zu ändern.

Im Wahlprogramm der SPD zur Bundestagswahl 2021 heißt es: »Gewinne, die aus Mitteln der Solidargemeinschaft erwirtschaftet werden, müssen zumindest mehrheitlich wieder in das Gesundheitssystem zurückfließen.« Das System der Fallpauschalen werde man »auf den Prüfstand stellen, die Pauschalen überarbeiten und wo nötig abschaffen«. Selbstredend meint »wo ­nötig« nicht Deutschland, sondern einzelne Fachgebiete, zum Beispiel die ­Pädiatrie oder die Geburtshilfe.

Im Bundestagswahlprogramm der Grünen findet man ähnliche Positionen: »Die Gemeinwohlorientierung im Gesundheitswesen soll gestärkt und der Trend hin zu Privatisierung umgekehrt werden. Die Konzentration auf ertragreiche Angebote muss ein Ende haben. Kliniken sollen deshalb in Zukunft nicht mehr nur nach Fallzahl, sondern auch nach ihrem gesellschaftlichen Auftrag finanziert werden.«

Für die Beschäftigten und Patien­ten wäre das durchaus wünschenswert. In Anbetracht der Interessen der in Deutschland tätigen Gesundheitsunternehmen ist allerdings fraglich, ob der vorsichtig formulierte Wille, die kapitalistische Verfasstheit des Gesundheitswesens etwas einzuhegen, dazu ausreichen wird. Mit dem eigentlichen Gegner, den Kapitalfraktionen, die hierzulande im Gesundheitswesen investieren und Profite machen wollen, scheint man es nicht aufnehmen zu wollen. Der Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP bestätigt diese Vermutung.

Eine linke parlamentarische Position vertritt die Linkspartei in ihrem Bundestagswahlprogramm: Es sei falsch, dass Krankenhäuser gewinnorientiert wirtschaften müssen. Private Krankenhäuser und Pflegebetriebe wolle man in Gemeineigentum überführen. Sie müssten nach Bedarf und Gemeinwohl organisiert werden. Das System der Fallpauschalen wolle man durch eine bedarfsgerechte Finanzierung ersetzen. »Die Zweiklassenmedizin ­wollen wir mit einer solidarischen Gesundheitsversicherung ablösen, in die alle einzahlen.«

Natürlich würde damit nicht der ­Kapitalismus abgeschafft, aber immerhin sollen kapitalistische Mechanismen explizit wieder aus dem Krankenhaussektor ausgeschlossen und Privat- wieder in Gemeineigentum überführt werden – was Möglichkeiten für ­weitergehende Überlegungen eröffnen könnte. Die grundlegenden Verteilungsfragen werden bei der Krankenversicherung gestellt: Eine solidarische Bürgerversicherung soll alle Einkommen und Einkommensarten gleichermaßen einbeziehen. All das wäre möglich und sinnvoll. Zumindest bezogen auf den Patentschutz für Covid-19-­Impfstoffe wird in dem Programm zudem eine internationalistische Perspektive deutlich: »Gerade in der Pandemie zeigt sich, dass Pharmaforschung ein öffentliches Gut ist. Die Lizenzen für die Coronaimpfstoffe müssen freigegeben werden«.

Was aber wäre eine linke Perspektive auf das Gesundheitswesen, die über kapitalistische Verhältnisse hinausweist? Welche Forderungen ergäben sich daraus mit Blick auf die Eigentumsverhältnisse im Krankenhaussektor? Soll man die privaten Häuser zum Beispiel wieder den Kommunen übergeben, oder soll man sie genossenschaftlich organisieren? Wie soll man medizinischen Bedarf ermitteln und wer soll dessen Erfüllung planen? Soll ein zentrales Gremium für die Planung zuständig sein, oder soll sie demokratisiert werden, indem Beschäftigte, Patienten und lokale Politiker einbezogen werden? In welchen Gremien könnte das geschehen? Wie soll die zwischen diesen und einer zentralen Planungsinstanz, auf die man wohl kaum wird verzichten können, vermittelt werden? Kurz, wie bestimmt man den Bedarf an medizinischer Versorgung demokratisch?

Die Annahme, dass dieser Bedarf sich schlicht aus der Addition individueller Bedürfnisse und Ansprüche ergäbe und also jeder bekommen könne, was er braucht, ignoriert mögliche Versorgungsprobleme, denn es geht um das medizinisch Notwendige. In den Aus­einandersetzungen und Streiks in den Krankenhäusern stellen Beschäftigte und politisch Aktive sich solche Fragen: Welche Leistungen im Krankenhaus dienen bloß dem Profit, welche sind medizinisch begründet? Auf erstere kann man verzichten.

Auch an praktische Erfahrungen, die bei Streiks im Krankenhaussektor gemacht wurden, ließe sich in transformatorischer Perspektive anknüpfen: Die Streikenden in Krankenhäusern lassen inzwischen häufig nicht mehr die gewerkschaftlichen Vertreter alleine Tarifverhandlungen führen, sondern jede Station beziehungsweise jedes Team delegiert eine Person, die mitverhandelt. Diese Handlungseinheiten von Selbstorganisation haben viele Streikende als kollektive Selbstermächtigung erfahren.

Am Beispiel des Gesundheitswesens lernt man schnell, sich von einfachen Vorstellungen von Emanzipation zu verabschieden. Eine linksradikale Per­­­­spektive kann nicht davon ausgehen, dass in einer Gesellschaft, die nicht mehr kapitalistisch produziert, jeder machen kann, was er will. Auch im Kommunismus wird man im Gesundheitswesen Tag und Nacht arbeiten müssen, und diese hochkomplexe Arbeit muss man planen und organisieren. Es wird sich auch die Frage stellen, welche Leistungen gesellschaftlich ­erbracht sollen. Nicht alles, was technisch möglich ist, muss gesellschaftlich sinnvoll sein. Auch hier kann nicht gelten, dass jede alles bekommt, was sie möchte. Man wird sich also auf konfliktreiche demokratische Auseinandersetzungen unter Gleichen und Freien freuen dürfen.

Marx beschreibt diese Freiheit im »Reich der Notwendigkeit«. Sie könne »nur darin bestehen, dass der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Produzenten, diesen ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden; ihn mit dem geringsten Kraftaufwand und unter den ihrer menschlichen Natur würdigsten und adäquatesten Bedingungen vollziehen«. Das gilt auch für das Gesundheitswesen.